Ich bin wütend. Ich bin schon lange so verdammt wütend. Ich schmecke die Wut auf meiner Zunge. Sie schmeckt nach Tonic Water. Das Bittere haftet auf meiner Zunge und in mir drinnen.
Ich bin wütend, ich war wütend, ich werde noch viel wütender sein und schäme mich nicht mehr dafür.
Wann meine Wut begonnen hat, kann ich nicht mehr sagen. Ich musste sie zulassen, ich musste sie verstehen. Verstehen, dass es eben kein Zufall, kein Einzelfall und auch kein Glücksfall war, sondern das System. Dass bereits kleine Überschreitungen ausreichen, um Narben zu hinterlassen. Dass du mit 30 immer noch als Mädel angesprochen wirst. Dass dich der Taxifahrer jedes Mal wieder fragt, ob du schon studierst. Dass es kein Zufall ist, dass er dich nicht aussprechen lässt. Dass es kein Zufall ist, dass jedes Mal am Wochenende eine Hand auf deinem Hintern landet. Dass es kein Zufall ist, dass er aggressiv wird, wenn du ihn darauf ansprichst. Dass er auf Instagram etwas von Feminismus posten kann und dein Nein trotzdem ignoriert.
Es sind Geschichten, die wir alle erlebt haben. ___STEADY_PAYWALL___ Sie wabern unter der Oberfläche. Die Herdplatte wird nie kalt. Manchmal, nach ein paar Gläsern in einer Runde oder unter vier Augen, kocht der Topf über. All die Emotionen dürfen raus. Eine beginnt zu erzählen. Es geht um kleine Grenzüberschreitungen oder um ganz große. Von ihnen zu erzählen tut weh, es erinnert und es macht die Geschehnisse wahr. Von nun an weißt du, dass auf dir für immer ein Label haften bleiben wird. Opfer oder misshandelt oder vergewaltigt.
Natürlich willst du nicht die sein, die vergewaltigt wurde. Niemand will die sein, die vergewaltigt wurde. Durch das Erzählen wird alles zuerst noch einmal wahr. Der bittere Geschmack verwandelt sich zu einem festen Kloß. Das Herz rast und der Kopf brummt. Es tut aber nicht mehr weh als das Mitleid in den Augen der Person, der du davon erzählst. Mitleid bringt dir nichts, abseits der Erkenntnis, dass es dir wirklich angetan wurde. Du bereust, etwas gesagt zu haben, du willst alles, aber kein Opfer sein. Du willst dir das Etikett an deinem Körper runterreißen.
Manchmal passiert nach dem Schmerz aber noch etwas anderes. Dein Gegenüber sagt, dass sie hinter dir steht. Dass sie dich unterstützt. Dass sie dir glaubt. Und beginnt selbst zu erzählen. Eine ähnliche Geschichte, die doch anders ist. Dann erzählt die nächste Person und danach wieder eine. Du hörst Dinge, von denen du niemals gedacht hättest, dass diesen Frauen das angetan wurde. Dass sie auch ein Label an sich tragen. Mit jeder Geschichte wirst du wütender. Wie kann es sein, dass uns allen derselbe Scheiß angetan wird? Du willst auf die Geschichten etwas antworten, was Trost spendet. Du willst sie nicht bemitleiden, du willst etwas sagen, was ihnen hilft. Ich mach ihn fertig, rufst du. Das wird er noch bereuen, rufst du.
Du siehst deine Freundinnen an. Sie lächeln nun hinter ihren Tränen. Sie wissen, dass diese Drohung nicht ernst ist, aber sie wertschätzen deine Bereitschaft. Dein Hals ist noch angeschwollen, aber da ist etwas anderes. Zum ersten Mal ist da auch etwas Süßes auf deiner Zunge. Es verdrängt das Bittere nicht ganz, aber es ergänzt es. Du merkst, du bist nicht allein. Du merkst, dass sie dir glauben. Und du merkst, dass wir uns wehren können. Dass Frauen nicht nur Opfer sind.
Was ich beschreibe, möchte ich einen wehrhaften Feminismus nennen. Wehrhaft im Sinne von Zusammenschluss. Sich glauben. Sich helfen. Mit allem, was dazugehört. Wenn wir traumatische Erlebnisse teilen, die uns angetan wurden, kann es helfen, sich auszumalen, wie Rache aussehen könnte. Mit jedem Übergriff wird uns neben unserer Würde auch Macht genommen. Rache hat einen großen Vorteil: Sie gibt Macht. Sei es in Gedanken, in Gesprächen, in Filmen oder in der Literatur. Mich hat nichts anderes als meine eigene Wut und Erfahrung im Leben im Patriarchat dazu gebracht, meinen Roman zu schreiben. Die Frauen in meinem Buch „Männer töten“ drehen die Rollen um. Sie sind keine Opfer, sie haben die Macht, sie sind Täterinnen. Gewalt ist kein Teil des Systems, sondern ein Fehler, den sie beheben.
Rache ist ein aufgeladenes Wort. Es stößt vielen Menschen auf wie die Säure des vierten Kaffees am Nachmittag. Rache schmeckt für manche nach Religion oder nach Politik oder nach Historie. Rache sei keine Lösung, genauso wie Gewalt. Ich werde in Interviews gefragt, warum die Protagonistinnen in meinem Buch selbst Gewalt ausüben müssen. Warum sie nicht friedlich und zufrieden in ihrem Matriarchat leben können. Manche behaupten, dass mein Buch die Stereotype des Patriarchats kopieren würde. Oder sie erzürnt bereits der Titel. „Männer töten“! So könne man doch kein Buch nennen. Das sei ja unerhört. Ich antworte ihnen jedes Mal mit einer ausführlichen Erklärung und einem Link zur aktuellen Liste der Femizide und versuchten Femizide in Österreich, also der Morde an Frauen wegen ihres Geschlechts.
Ich habe mich selbst sehr oft gefragt, ob es Gewalt in meinem Buch braucht und an welchen Stellen. Einerseits stimmt es, dass Gewalt immer zu Gewalt führt. Andererseits ist Gewalt in unserem Leben sowieso omnipräsent. In jedem zweiten Krimi wird eine Frau entführt, vergewaltigt, ermordet und/oder zerstückelt. Und in der Realität ist für eine Frau die größte Gefahr ihr eigener Partner. Im Schnitt wird in Österreich jede zweite Woche eine Frau ermordet. Im Schnitt werden drei von vier Frauen in ihrem Leben sexuell belästigt. Im Schnitt ist nie nur im Schnitt. Im Schnitt ist unser Leben. Die Gewalt ist da, sie ist unsere ständige Begleiterin. Immer und überall. Sie macht etwas mit uns.
So überrascht es wenig, dass auch im Rache-Genre lange die Männer das Sagen hatten. „Inglourious Basterds“, „Django Unchained“, „Irreversible“ oder „Hamlet“ – in all diesen Geschichten erzählen Männer von Rache und lassen Männer Rache ausüben. Doch auch Frauen mischen in diesem Genre mit und interpretieren es neu. Taylor Swift rechnet in ihren Songs mit Ex-Freunden ab (wie etwa in „I Knew You Were Trouble“). Billie Eilish singt darüber, die Stadt zu übernehmen („You Should See Me in a Crown“). So schmeckt Rache nach etwas Neuem: Nach Selbstermächtigung, nach Freiheit, nach Gerechtigkeit, danach, dass sich endlich etwas ändert und wir nicht in hundert Jahren noch dieselben Geschichten erzählen müssen.
Darum überrascht es nicht, dass es längst ein eigenes Genre dafür gibt. Im feministischen Revenge-Genre bin ich nicht allein. Ich reihe mich ehrfürchtig neben Frauen ein, die ich bewundere. Wie Mareike Fallwickl, die in „Die Wut, die bleibt“ über eine junge Generation schreibt, die sich wehrt. Oder Michaela Coel, die in ihrer grandiosen Serie „I may destroy you“ davon erzählt, wie eine Frau, die vergewaltigt wird, damit umgeht. Oder Emerald Fennell, die in dem Film „Promising Young Woman“ von einer Frau erzählt, die ihre beste Freundin rächt. Oder Oyinkan Braithwaite, die in „Meine Schwester die Serienmörderin“ eine Frau zur Täterin werden lässt. Oder Phoebe Waller-Bridge, die in „Killing Eve“ eine Frau kompromisslos morden lässt. Das alles sind total unterschiedliche Werke, doch sie vereint etwas: Die Wut, die diese Frauen zulassen, und ihre Lust, die in die Gehirne betonierten Machtverhältnisse aufzubrechen.
In mir hat jedes dieser Werke einen neuen Funken ausgelöst. Ein kleines bisschen Macht. Wenn auch nur für einen Moment. Ich kann mich noch erinnern, als ich nach „Promising Young Woman“ aus dem Kino auf die Straße gegangen bin. Ich machte den Soundtrack an und blieb noch für den gesamten Heimweg in der Welt des Films. Ich fühlte mich mächtig und unerschrocken, und meine Zukunft fühlte sich plötzlich vielversprechend an.
Exakt wegen diesem Gefühl liebe ich das Genre der feministischen Rache. Es gibt mir Kraft. Die Rache steht gegensätzlich zu allen Attributen des Patriarchats. Zu Scham, zu Angst, zu Unterdrückung. Rache ist immer laut und niemals leise. Rache ist immer radikal und niemals leicht. Rache ist immer Bewegung und niemals Stillstand. Rache oder eben die Gedanken an Rache werden uns zusammenschweißen. Wir werden uns zuhören, uns glauben und uns helfen. Und mit „wir“ meine ich nicht nur die Frauen. Ich meine alle, die diskriminiert werden, wegen ihrer Herkunft, ihres Geschlechts, ihrer Sexualität, ihrer Behinderung oder ihrer Religion, und alle, die daneben stehen und endlich etwas ändern wollen.
Einerseits, weil es das einzige ist, was wir tun können, und andererseits, weil uns die Macht gefallen wird. Wir werden sehen, wir sind nicht allein. Wir sind mehr.
Eva Reisinger lebt und arbeitet als freie Autorin in Wien. Ihr Romandebüt „Männer töten“ erschien im August 2023 bei Leykam und ist nominiert für den österreichischen Debüt-Buchpreis. Mehr Infos unter www.evareisinger.de
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