Online-Gewalt gegen Frauen beginnt mit Abwertung
Hasskommentare und Online-Gewalt treffen Frauen besonders häufig – persönlich, sexistisch und verletzend. Neue EU-Gesetze sollen den digitalen Raum sicherer machen – doch es gibt noch viel zu tun.
„Er darf bloß kein Arschloch werden“, so beschreibt die Autorin und Journalistin Shila Behjat ihre Gedanken, als sie vor über zehn Jahren erfahren hat, dass das Baby in ihrem Bauch ein Bub ist. Ein Satz, den sie so auch von anderen Müttern von Söhnen gehört hat.
„Ich wollte eine Tochter, die ich zu einer starken, sicheren und schlagfertigen Frau großziehen konnte. Ich wollte zwei davon. Was soll ich denn mit einem Sohn anfangen?“ schreibt die Autorin und Journalismus-Professorin Sonora Jha in ihrem Buch. Eindringlich schildert sie, wie sie beim Ultraschall-Termin in Tränen ausbricht, als sie das Geschlecht ihres Kindes erfährt. Die Frage, die dahinter liegt: „Was, wenn mein Sohn ein Täter wird?“
Die Frage ist drängend. Nach einem Bericht der UN nimmt die Gewalt an Frauen weltweit zu. In Österreich wurden im Jahr 2022 39 Frauen ermordet, jede dritte Frau hat körperliche oder sexualisierte Gewalt erlebt. Der Einfluss von Incels, Rechtsextremisten und Islamisten auf Social Media ist groß. Wie soll man in dieser Welt einen guten Mann erziehen? Aber auch – wie und von was ist ein männliches Kind in dieser Welt gefährdet?
Die beiden Mütter, die von ihren ambivalenten Gefühlen beim Ultraschall erzählen, sind Autorinnen, Journalistinnen und Feministinnen und haben sich genau das gefragt. Beide haben Bücher darüber geschrieben: „Söhne großziehen als Feministin“ der deutschen Journalistin Shila Behjat ist Anfang dieses Jahres im Hanser-Verlag erschienen, „How to raise a feminist son“ von Sonora Jha – im Original in den USA bereits 2021 erschienen – wurde im Sommer 2023 mit Hilfe einer Crowdfunding-Kampagne vom Independent-Verlag &töchter ins Deutsche übersetzt.
Auf beide Bücher wurde ich – als Feministin und Mutter eines Sohnes – von mehreren Personen hingewiesen: „Das musst du unbedingt lesen.“ Es scheint eine gewisse Sehnsucht danach zu bestehen, eine Art Gebrauchsanleitung für Jungen zu bekommen. ___STEADY_PAYWALL___ Der Erziehungsratgeber- und Kinderbuchmarkt hat in Sachen Empowerment für Mädchen scheinbar ziemlich aufgeholt – auf jeden Fall, was das Marketing betrifft. Der 2016 erschienene New-York-Times-Bestseller „Good Night Stories for Rebel Girls“ etwa wurde in 42 Sprachen übersetzt, hat mehrere ähnliche Bücher bis heute inspiriert, Folgebände und -produkte erschienen. Um das Thema Söhne bleibt es hingegen eher still. Erziehungsratgeber, die sich auf männliche Kinder beziehen, sind oft veraltet und stark binär gedacht. Auch für männliche Role Models in Kinderbüchern gibt es wenig Nachbesetzungen, während die alten, vorhandenen, nicht mehr ausreichen.
Auch Shila Behjat hat sich nach so einer Anleitung gesehnt. „Ich habe gesehen, dass die Mutter von Söhnen und die Feministin in mir nicht so viel miteinander anfangen konnten“, erzählt sie im Zoom-Interview. Literatur habe sie wenig dazu gefunden, eher vereinzelte Artikel, etwa den bereits 2018 auf der Plattform Pinkstinks erschienenen Artikel der Autorin und Journalistin Mithu Sanyal „I will always love my male child“ (auch hier wird kurz nach dem Ultraschall geweint). Im feministischen Diskurs habe ihr der sanfte Blick auf Söhne gefehlt. Sie habe sich gefragt, ob sie eigentlich selbst die Ideale lebt, die sie von anderen lautstark einfordere, etwa gerecht und unvoreingenommen behandelt zu werden. „Ich wollte mich selbst überprüfen und habe mich gefragt, welche Bilder ich im Kopf habe, wenn ich an meine Kinder herangehe. Ich habe gemerkt, dass ich sehr große Vorbehalte, sehr tiefsitzende Stereotype gegenüber Männlichkeit und männlichem Verhalten habe.“
Behjat sagt, dass Mädchen heute ermutigt werden würden, wild und rebellisch zu sein. Eigenschaften, die bei Jungen nicht mehr erwünscht seien, sie sollten sich eher zurücknehmen, wären schnell „zu viel“. Sie beschreibt in ihrem Buch Situationen des Alltags in denen ihren Söhnen mit großen Vorbehalten begegnet wurde, weil sie Jungen sind: Eine Verkäuferin im Spielzeugladen schnauzt ihre Söhne schon proforma an, denn: „Bei Jungen kann man nie genug aufpassen. Die machen alles kaputt“. Oder den Besuch eines klassischen Konzertes, bei dem sie mit großem Argwohn betrachtet werden: „Hier muss man still sein“.
Hier stockt mein feministisches Gewissen. Werden Mädchen wirklich überall im deutschsprachigen Raum ermutigt, so wild und rebellisch zu sein, wie es auf den Kinderbuch-Covern mit den Köpfen berühmter Frauen wirkt? Und werden Buben wirklich so beschränkt in ihrer Wildheit und Energie, sind sie nicht vielmehr Opfer einer allgemeinen Kinderfeindlichkeit? Und warum sollte man überhaupt einen Unterschied machen in der Erziehung zwischen Jungen und Mädchen? Das ist doch genau das, wovon ich weg will.
„Einerseits sagen wir, dass macht alles keinen Unterschied mehr, andererseits ist der Blick auf unsere Kinder unglaublich binär und von Geschlechterstereotypen geprägt.“ Shila Behjat
Was Studien unterstreichen ist, dass Mädchen und Jungen unterschiedlich behandelt werden und das schon sehr früh. Buben werden härter angesprochen, erfahren weniger körperliche Zuneigung, schon als Baby. Studienteilnehmer*innen drücken vermeintlichen Mädchen eher weiche Spielzeuge zum Kuscheln und Kümmern in die Hand, Kindern, die sie für Jungen halten, eher etwas zum Fahren und Bauen. Auch der Alltag zeigt: Ansprachen wie „Kerl“ oder „kleiner Mann” sind üblich. „Es ist skurril“, sagt Behjad. „Einerseits sagen wir, das macht alles keinen Unterschied mehr, andererseits ist der Blick auf unsere Kinder unglaublich binär und von Geschlechterstereotypen geprägt.“
Sie ist überzeugt: „Wir, als Gesellschaft, aber auch wir als Feministinnen, haben uns geweigert, uns mit Männlichkeit zu beschäftigen“ und das ist ein Problem. Dabei ist es gerade heute wichtig, Männlichkeit neu zu besetzen, wenn etwa im Internet Incels, Islamisten und Rechtsextreme zur Radikalisierung rufen und Identifikationsangebote für Jungen liefern, die in einer komplexen und krisenhaften Zeit aufwachsen. Feminismus kann eben auch die Söhne davor schützen, sich zu radikalisieren.
Erziehungstipps gibt das Buch „Söhne groß ziehen als Feministin“ nicht. Vielmehr beschreibt Behjat eine feministische Bildungsreise, wie sie ihre Söhne, die sie als zwei weiß gelesene Jungen beschreibt, zur intersektionalen Feministin gemacht haben. Sie fragt sich, wen Strömungen des heutigen Feminismus heute ausschließen – nicht-binäre Personen etwa. Und sie beschreibt, wie sie erkennt, wie wenig sie sich selbst – als in Deutschland aufgewachsene Tochter einer Deutschen und eines Iraners – im Feminismus oft gesehen fühlt.
Auch Sonora Jha gibt, anders als der Titel ihres Buches suggeriert, nur bedingt Erziehungsratschläge. Ihren 1995 geborenen Sohn hat sie größtenteils alleine groß gezogen. Auch Jha ergründet ihren eigenen Feminismus. In Indien aufgewachsen, hat sie ihren Sohn in den USA großgezogen, wo sie heute noch lebt. Jha hat Gewalt in ihrer Familie erlebt, ihren Sohn einerseits vor männlicher Gewalt zu schützen und ihn selbst nicht zum Täter zu erziehen, ist ihr dringlichstes Anliegen.
Dabei gibt sie sehr konkrete Anregungen, wie man Söhne für Feminismus sensibilisieren kann. Vieles davon bezieht sich auf Literatur und Popkultur und klingt leicht umsetzbar: „Kuratiere dein Bücherregal“ schlägt sie vor, oder auch Geschichten, die man selbst als Kind geliebt habe, mit vertauschten Rollen oder in einem neuen Kontext vorzulesen (einer Anweisung, die feministische Eltern wohl meistens sowieso intuitiv durchziehen).
Anderes wird etwas komplizierter: „Setz dich dafür ein, militärische Strukturen und toxische Maskulinität in Politik und Gesellschaft zu stürzen.“
Doch Jha lässt viel Freiraum fürs Fehler machen, sowohl für Mütter, als auch für Söhne; erzählt, wie schwer es ihr gefallen ist, mit ihrem Sohn im Rahmen von #MeToo über ihre eigenen Erfahrungen zu sprechen, wie sie ein feministisches Dorf um ihren Sohn gebaut hat und wie er ausgerechnet bei den Pfadfindern gute männliche Vorbilder gefunden hat.
Ein weiterer wichtiger Punkt: „Erlaube Jungen und Männern, sich zu kümmern und zu sorgen“ und „Konzentriere dich auf Männer, die bereit sind, sich zu ändern.“
Denn in einem sind sich so gut wie alle Veröffentlichungen zum Thema einig: Die Männer (ob mit oder ohne Kinder) ziehen sich aus der Affäre. Zwar bräuchte es nicht unbedingt Männer um feministische Söhne zu erziehen – auch da sind sich beide Autorinnen einig, aber ein Armutszeugnis, wie wenige sich dem Thema aktiv stellen, ist es eben doch.
„Es ist eine Reise für Feministinnen, Stereotype und Vorurteile abzulegen. Weil wir doch eigentlich alle von uns denken, genau diese zu bekämpfen — allerdings eben vor allem bei anderen. Damit werden die Männer jedoch keineswegs wieder entlastet. Wir brauchen eine neue Generation Männer, die Gewalt an Frauen erkennt und aktiv bekämpft. Männliche Gewalt muss auch von Männer bekämpft werden. Und das sieht man viel zu selten“, sagt Behjat.
Ein kleiner persönlicher Einschub: Mir war das Geschlecht meines Kindes beim Ultraschall-Outing aufrichtig wurscht. Vielleicht weil ich stark vom Queerfeminismus geprägt bin und deshalb Genderkategorien nicht allzu viel Bedeutung beimessen will. Aber im Wochenbett lese ich das Buch „Prinzessinnenjungs“ von Nils Pickert. Der Autor und Vater ist einer der Männer, die im deutschsprachigen Raum dafür bekannt sind, sich mit Männlichkeit auseinanderzusetzen. Ich lese es sehr schnell, das winzige Baby neben mir, und will das einfach alles nicht. Pickert beschreibt in seinem Buch, wie Jungen unter toxischer Männlichkeit und männlicher Gewalt leiden und was es mit ihnen macht.
In einem Text für den Standard schreibt er, wie Jungen in der Verneinung erzogen werden. Stets gehe es darum, was sie nicht werden sollen. Was fehle ist, wie sie sein könnten, großzügig, fair, emphatisch, gute Verlierer, um nur einiges zu nennen: „Für mich haben diese Qualitäten kein Geschlecht. Das sind einfach Eigenschaften, die ich gerne in meinen Kinder verkörpert sähe. Was meine Jungs draus machen, ist ihre Sache. Und ob sie das Ergebnis dann Feminismus nennen, auch.“
Oder wie Behjat sagt: „Es reicht nicht, wenn sie gute Menschen werden. Es müssen Menschen werden, die sich gegen Gewalt an Frauen stellen.“
Das ist eine sehr große Aufgabe, oder das absolute Minimum, je nachdem, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet. Vorbilder dafür müssten aber nicht unbedingt Männer sein. Behjat, die sich auch viel mit der Frauenbewegung im Iran auseinandersetzt, sagt: „Was mich tröstet ist, dass meine Söhne in einem Umfeld aufwachsen, in dem es sehr viele positive weibliche Beispiele gibt, die sich für Gerechtigkeit einsetzen, etwa in der Iran-Arbeit. Sie sehen nicht als erstes die Frau, sondern die aktive Person. Das ist auch ein wichtiger Einfluss.“
Schon 2017 fragte die Autorin Claire Cain Miller in der New York Times, wie feministische Söhne zu erziehen seien. Und wenn man sich alle Ideen ansieht, kommt man nur zu dem Schluss: Eigentlich genauso wie die Töchter.
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