Flyern für die Sicherheit? Die Stadt Wien verhindert Konflikte durch Awareness-Arbeit
Im Lastenrad hat das Awareness-Team das Wichtigste dabei: Wasser, Traubenzucker, Tampons, Kondome, Flyer von Beratungsstellen. Hier am Wiener Karlsplatz im Sommer 2023.
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Laura Lugmair
Reporterin

Flyern für die Sicherheit? Die Stadt Wien verhindert Konflikte durch Awareness-Arbeit

Ob Club, Festival oder öffentlicher Platz: Wo viele Menschen feiern, häufen sich Grenzüberschreitungen, Diskriminierung, übergriffiges Verhalten und sexualisierte Gewalt. Wie Awareness-Arbeit dagegen ankommen will.


Karlsplatz, Wien, Sommer 2023. Eine kleine Gruppe Jugendlicher sitzt auf einer Parkbank. Bier in den Händen, Musik leise aufgedreht. Paul geht auf die Gruppe zu. Er macht Awareness-Arbeit und möchte sich und sein Team vorstellen. Denn Awareness-Arbeit hilft nur dann, wenn die Leute auch davon wissen. „Kein Bock“, schneidet ihm einer der Jugendlichen unmittelbar das Wort ab. Paul kommt wieder zurück. Schlechter Start, meint er, das sei nicht immer so.

Jedes Wochenende im Sommer ist Paul als Teil eines vierköpfigen Awareness-Teams auf öffentlichen Plätzen in Wien unterwegs. Er studiert Soziale Arbeit, die Awareness-Schichten sind Teil eines Praktikums für sein Studium. Aber auch nach dem Praktikum wolle er damit weitermachen, erzählt er. Organisiert werden die Teams von der Wiener Awareness Initiative AwA*, finanziert von der Stadt Wien.

Die Awareness-Teams arbeiten im öffentlichen Raum an den Hotspots, wo sich junge Menschen zum Abhängen treffen. Sie dienen als Anlaufstelle. Egal ob jemand belästigt wurde, zu viel getrunken hat oder einfach eine Person zum Reden braucht: Jeder kann sich an das Team wenden. In einem Lastenrad haben Paul und die anderen Mitglieder des Teams Nützliches zur freien Vergabe dabei: Wasser, Traubenzucker, Tampons, Kondome, Flyer von Beratungsstellen.

Durch Awareness sollen sich alle wohlfühlen

Awareness-Arbeit versucht Grenzüberschreitungen zu verhindern. Oder für die betroffene Person da zu sei, wenn bereits etwas passiert ist. ___STEADY_PAYWALL___ Übersetzt bedeutet Awareness Bewusstsein. Das Konzept Awareness fördert einen rücksichtsvollen zwischenmenschlichen Umgang, indem man die eigenen Grenzen kennt und die von anderen respektiert. Dazu gehört das Bewusstsein, dass Sexismus, Rassismus und diskriminierendes Verhalten strukturell in der Gesellschaft verankert sind. Dem tritt man entgegen, während man die eigenen Privilegien kennt und hinterfragt.

Awareness zeichnet aus, dass die Bedürfnisse der von diskriminierendem, übergriffigem oder grenzüberschreitendem Verhalten betroffenen Person im Fokus stehen. Ihr wird zugehört und ihre Erfahrungen werden ernst genommen. Dadurch soll die betroffene Person ihre Handlungsfähigkeit (zurück)erlangen. Letzteres spiegelt sich auch sprachlich wider: Awarness-Arbeiter*innen sprechen nie von „Opfern“, sondern von Betroffenen.

Die Idee, Betroffene in den Mittelpunkt zu stellen, kommt ursprünglich aus der zweiten Welle der Frauenbewegung in den 1970er-Jahren. Anknüpfend daran entwickelte sich Anfang der 2000er-Jahre der Awareness-Ansatz. Die Aktivistin Ann Wiesental bildete 2007 eines der ersten Awareness-Teams in Deutschland. Queerfeministische und linke Gruppen arbeiteten Awareness als Ansatz weiter aus. Besonders 2017 gründeten sich viele Initiativen – auch das Wiener Kollektiv AwA* hatte in diesem Jahr seinen Anfang.

Awareness beschränkt sich nicht nur auf Clubs

Seither hat sich das Konzept von Awareness vor allem im Nachtleben und Veranstaltungswesen etabliert. Bei Veranstaltungen, sei es ein Festival oder Club-Event, fühlen sich die Besucher*innen oft befreiter als im Alltag. Es wird gefeiert, getanzt – und auch konsumiert. Dadurch kann eine Atmosphäre entstehen, in der Menschen ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen, die Grenzen anderer missachten und sich sexistisch, rassistisch, diskriminierend oder aggressiv verhalten. Durch aktives Hinweisen auf dieses Problem sowie das Einschreiten im Fall einer Grenzüberschreitung kann Awareness-Arbeit hier entgegen wirken.

Als Clubs in der Corona-Pandemie geschlossen waren, wichen viele junge Menschen auf öffentliche Plätze aus. Das bedeutete: Viele Menschen, wenig Platz, keine Ordnung. Es dauerte nicht lange, bis Konflikte entstanden. Am 4. Juni 2021 kam es am Karlsplatz in Wien zu Auseinandersetzungen zwischen Jugendlichen und Polizeibeamt*innen. Die Polizei versuchte, den Platz zu räumen, da es zu Sachbeschädigungen gekommen sei und Corona-Sicherheitsmaßnahmen nicht eingehalten worden seien. Es endete in Tumulten. Die Stadt Wien suchte eine rasche Lösung, abseits von Polizei und Security. Eine Lösung, die eine solch aufgeheizte Stimmung wie im Juni 2021 schon in ihren Anfängen abfangen könnte. Die Stadtregierung entdeckte das Konzept der Awareness für sich.

Im öffentlichen Raum ist Awareness-Arbeit etwas Neues. Auch die Art der Arbeit ist hier etwas anders als bei Veranstaltungen. Der Fokus auf die Betroffenen und deren Bedürfnisse bleibt bestehen. Jedoch geht es im öffentlichen Raum vor allem darum, Konflikte durch Kommunikation zu entschärfen. Sei es aufgrund von Gewalt, Verschmutzung oder Lärmbelästigung. Indem ein Awareness-Team bereits vorab und im Konfliktfall das Gespräch sucht, können eskalative Momente verhindert oder eingedämmt werden.  

Schnelle Hilfe vor Ort

Innerhalb weniger Tage wurde das Projekt Awareness-Arbeit für den Wiener öffentlichen Raum mit dem Kollektiv AwA* umgesetzt. 600 Gespräche haben Awareness-Teams allein an einem Wochenende nach den Ausschreitungen vom 4. Juni im Sommer 2021 geführt. Derartige Tumulte zwischen Jugendlichen und der Polizei gab es danach nicht mehr. Seitdem sind jedes Jahr in den Sommermonaten mehrere Awareness-Teams in der Wiener Innenstadt unterwegs, am Wochenende von 19.00 bis 4.00 Uhr nachts. 

Paul ist überzeugt, dass sich die Menschen allein durch die Anwesenheit des Teams wohler fühlen. Denn sollte jemand pöbeln oder übergriffig werden, ist Hilfe vor Ort. Niederschwellige, gewaltfreie und nicht-institutionalisierte Hilfe. Das ist wichtig, denn eine Person, die offensichtlich illegale Substanzen konsumiert hat, kann nicht bei Polizeibeamt*innen um Unterstützung bitten, ohne Konsequenzen zu befürchten. Bei einem Awareness-Team hingegen schon. 

Damit die Menschen vom Angebot wissen, verbringt Paul viel Zeit damit, Flyer zu verteilen, auf seine Arbeit aufmerksam zu machen und zu erklären, was Awareness überhaupt bedeutet. Die meisten Reaktionen auf das Team am Karlsplatz fallen an diesem Abend im Sommer positiv aus. Die Leute wirken neugierig und nehmen das Angebot interessiert auf, auch wenn sie damit vorher noch nie in Berührung gekommen sind. 

Awareness-Arbeit ist in Clubs etabliert

Weitläufig bekannt ist Awareness-Arbeit in Clubs und Bars. Dort finden sich immer öfter Awareness-Teams, aber auch Barpersonal und Sicherheitskräfte können entsprechend sensibilisiert sein. Vor allem in der Techno-Szene arbeiten Veranstalter*innen häufig mit Awareness-Konzepten, als eigenständiges Konzept oder zusätzlich zum Sicherheitskonzept. Awareness und Security arbeiten im Idealfall eng zusammen, sind aber nicht das gleiche: Security ist bei bestimmter Art und Größe einer Veranstaltung gesetzlich vorgeschrieben und kümmert sich um eine gewisse Grundsicherheit, wie dem Schutz vor Personen- oder Sachbeschädigung. Awareness hingegen zielt auf emotionale Sicherheit ab und fokussiert sich bei Vorfällen auf die Betroffenen.

Eine Ausbildung zur*zum Awareness-Arbeiter*in gibt es nicht. Aber etwa der Verein AwA* bietet Workshops dazu an. Der Verein vermittelt Awareness-Kräfte an Events und hilft dabei, Konzepte auszuarbeiten. Im September forderten sie, dass Gewaltschutzkonzepte bei öffentlichen Förderungen für Veranstaltungen berücksichtigt werden sollten.

Anlass war das #MeToo in der Wiener Technoszene. Ein Techno-Kollektiv machte Vorwürfe sexueller Gewalt publik. Und prangert damit ein strukturelles Problem in der Szene an. Weitere Kollektive und Clubs schlossen sich der #TechnoMeToo-Bewegung an. Umfragen spiegeln das Problem wider. 22 Prozent der Teilnehmer*innen einer Online-Befragung der Vienna Club Commission bewerten ihr Sicherheitsgefühl im Wiener Nachtleben als gering. Wesentlich häufiger unwohl fühlen sich Frauen, queere Personen und PoC/BIPoC (Black, Indigenous, and People of Color).

Gewalt und Diskriminierung gibt es überall

Das Problem beschränkt sich jedoch nicht auf die Wiener Clubszene. Laut einer Befragung des Festival Playground unter zehntausenden Festivalbesucher*innen fühlt sich eine Person von 10 auf Festivals unsicher oder durch andere eingeschränkt. 80 Prozent davon waren weiblich. Die Gründe? Sexismus, Rassismus, Aggressivität. Das Wort „Mann“ fiel in der Begründungsspalte annähernd 500-mal. Was sich die Befragten für ein besseres Sicherheitsgefühl wünschen, wären Security-Personal, genug Platz zum Tanzen, beleuchtete Wege – und Awareness-Konzepte.

Davon, dass Awareness-Konzepte Club- und Festivalbesucher*innen sicherer fühlen lassen, ist auch Sarah Saem Bergmann überzeugt. Sie ist Mitgründerin der deutschen Initiative Act-Aware. Ähnlich wie der Verein Awa* in Österreich bietet Act-Aware in Deutschland an, Awareness-Konzepte gemeinsam mit Veranstalter*innen zu entwickeln.

Act-Aware konnte sich nach einer öffentlichen Förderung zunehmend professionalisieren. Inzwischen arbeitet Act-Aware mit großen Festivals in Deutschland zusammen und finanziert sich selbst. Das Feedback von Veranstalter*innen und Besucher*innen sei positiv. Inwieweit sich Awareness-Arbeit auf Events organisieren könne, hänge zu einem Großteil von den Veranstalter*innen ab. Diese müssen initiieren, sagt Bergmann, erst dann können wir helfen. 

Codewörter sind zu wenig

Initiative für Awareness-Konzepte fehlt den österreichischen Mainstream-Festivals. Weder beim Frequency, Electric Love oder Nova Rock Festival ist Awareness ein großes Thema. Online findet man kaum Leitlinien, die mit Awareness zu tun haben. Auf Anfragen dazu kamen keine Antworten. 

Was es aber auf vielen Festivals gibt, sind Codewörter. Wenn sich eine Person unwohl fühlt oder etwas vorgefallen ist, kann sie sich damit an das Barpersonal wenden. Ein bekannter Code ist die Frage „Ist Luisa da?“, eine Anspielung auf eine angebliche Freundin, die man zu suchen vorgibt. Oder man bestellt einen nicht auf der Karte existenten „Angelshot“. Daraufhin bietet die angesprochene Person Hilfe an. Voraussetzung ist, dass Personal und betroffene Person dieselben Codes verwenden. 

Angelshots und Kampagnen wie „Luisa ist da“ seien ein guter Anfang, was Gewaltschutz angeht. Aber für echte Awareness-Arbeit zu wenig, kritisiert das Kollektiv AwA*. Damit Codes im Ernstfall helfen, müsse das angesprochene Personal sensibilisiert sein. Das sei oft nicht der Fall. Ist die Person an der Bar nicht für brenzlige Situationen geschult, könne das retraumatisieren und mehr Schaden anrichten, als wenn keine Ansprechperson vor Ort ist.

Keine Awareness-Arbeit sei besser als schlechte

Stimmen die Rahmenbedingungen nicht, sei keine Awareness-Arbeit besser als schlechte, sagen sowohl AwA* wie auch Bergmann von Act-Aware. Dazu würden Qualifikation, Bezahlung und Arbeitszeiten der Awareness-Arbeiter*innen zählen, besonders aber die Gesamtheit eines Awareness-Konzepts. Awareness sei keine einmalige Dienstleistung, sondern ein Prozess. Teams wären nur die Spitze des Eisbergs. Zwei ungeschulte Personen mit Flyer und Warnweste auf ein Event zu stellen, sei keine Awareness-Arbeit, sind sich die beiden Awareness-Initiativen einig. 

Denn zu einem Konzept zählt auch die interne Awareness. Das heißt, alle bei einer Veranstaltung beteiligten Personen achten auf das Wohlbefinden und sind sich potentieller Grenzüberschreitungen bewusst. Das gilt für das Bar- oder Sicherheitspersonal und diejenigen, die auf der Bühne auftreten. Auf einem Rammstein-Konzert müsste das Awareness Team als Erstes den Sänger vom Konzert verweisen, pointiert es der Verein AwA* in einer Aussendung. Alles andere wäre „Awareness-Washing“. 

Fehlende Umsetzung im ländlichen Raum

Awareness ist in Städten, Teilen der Clubszene und anfänglich auf großen Festivals angekommen. Damit fehlt ein Teil der österreichischen Ausgehkultur: die am Land. Es geht um Großraumdiscos und Zeltfeste. Daten zu sexuellen Übergriffen oder Diskriminierung gibt es hier kaum. Erzählungen von unangenehmen Erfahrungen und Zeitungsberichte von Vergewaltigungen auf Zeltfesten lassen eine ähnliche Dimension wie in der städtischen Clubszene oder auf Festivals vermuten. 

Gibt es in ländlichen Regionen Bestrebungen, Awareness-Konzepte zu entwickeln? Hin und wieder kämen Anfragen von ländlich geprägten Veranstaltungen, erzählt der Verein AwA*. Meistens wären es Frauen, die sich dem Thema annehmen. Ist sich aber nur eine Person aus dem Organisationsteam des Problems bewusst und allein auf der Suche nach einer Lösung, würden die Bestrebungen oft im Sand verlaufen. Es fehle an Bereitschaft und Budget. 

Aber nicht immer: Im ländlichen geprägten Kärnten findet sich der Villacher Kirtag mit einer Anlaufstelle für Betroffene sexualisierter Gewalt. Oder auch in Oberösterreich: Mitten im 2400-Seelen Ort Taiskirchen im Innviertel findet das Free Tree Open Air Festival statt – mit in der Hausordnung festgehaltenem Awareness-Konzept und Teams vor Ort.

Zurück zum Karlsplatz in Wien. Paul geht wieder los, „flyern“, wie er es nennt. Das anvisierte Ziel ist eine Gruppe von etwa 30-jährigen Männern, leicht angetrunken, Zigarette in der Linken, Dosenbier in der Rechten. Paul nähert sich langsam. Nach der ersten Begegnung an diesem Abend ist er unsicher, wie diese Gruppe auf ihn reagiert. Doch er kommt rasch ins Gespräch. Wie super, dass es ein Awareness-Team gibt, meint einer der Männer. Er kannte das Konzept vorher nicht, fände es aber toll. Da fühle er sich gut aufgehoben. In einer Atmosphäre, in der auf seine, aber vor allem die Bedürfnisse seiner Mitmenschen Acht gegeben wird.

Autor*in: Laura Lugmair

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