Die Mär vom Meer
Diese Plastiktüte im Meer ist leider nicht so einsam, wie es auf diesem Bild scheint. Bild: whithcomberd / Adobe Stock
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Steve Przybilla
Reporter

Die Mär vom Meer

Während die Welt in Müll erstickt, präsentiert die Textilindustrie eine vermeintliche Lösung: Kleidung aus recyceltem Meeresplastik. Doch sorgen solche Versprechen wirklich für saubere Meere?

Das Werbevideo beginnt düster. Im Meer treiben Fischernetze, Mülltüten und Kaffeebecher; am Strand türmen sich Einwegflaschen und Konservendosen. "Plastik ist überall", sagt eine Stimme auf Englisch. "Es erstickt uns." Doch nur wenige Sekunden später erscheint die Lösung: ein Turnschuh. Der ist zwar ebenfalls aus Kunststoff, aber aus recyceltem "Ocean Plastic". So nennt Adidas das Material, aus dem die Oberfläche besteht. Wer einen solchen Schuh kauft – so die Botschaft –, wird selbst zum Weltenretter und trägt zur Reinigung der Meere bei. Wer möchte da nicht zugreifen?!

In einem Punkt hat Adidas auch tatsächlich recht: Die Verschmutzung der Weltmeere bleibt ein Riesenproblem. Die Umweltschutzorganisation WWF schätzt, dass jedes Jahr bis zu 12,7 Millionen Tonnen Plastik in die Ozeane gelangen – zusätzlich zu den Millionen Tonnen von Plastik, die ohnehin schon auf oder unter der Wasseroberfläche treiben. Ob Fischernetze, Feuerzeuge oder Einwegrasierer: Ein großer Teil des Unrats zersetzt sich in Mikroplastik und gelangt früher oder später in die Nahrungskette. Fische und Vögel verenden, weil sie den bunten Abfall mit Futter verwechseln. Den Müll aus dem Meer zu holen, erscheint also dringlicher denn je.

Aus dem Meer selbst stammt der gesammelte Abfall fast nie

Nur: Mit der schönen Werbewelt hat die Realität leider nicht viel zu tun. ___STEADY_PAYWALL___So gibt es für Begriffe wie "Ocean Plastic" bislang nicht einmal eine genaue Definition. Jeder Hersteller, der vorgibt, aus Meeresmüll neue T-Shirts, Jacken oder Schuhe herzustellen, versteht etwas anderes darunter. Übereinstimmung herrscht nur in einem Punkt: Aus dem Meer selbst stammt der gesammelte Abfall fast nie; stattdessen vom Strand. Das erfahren die Kund*innen – wenn überhaupt – aber erst im Kleingedruckten. Während Adidas zumindest verrät, dass das Oberflächenmaterial seines Tennisschuhs zur Hälfte aus "Ocean Plastic" besteht, schweigen sich andere Hersteller hartnäckig über den Recyclinganteil aus. Selbst Autositze gibt es neuerdings in der lederfreien Ökovariante, hergestellt aus PET-Flaschen.

"Aber wir können gar nicht so viel Müll aus dem Meer fischen, wie jedes Jahr neu hinzukommt."

"Das grenzt schon an Greenwashing", findet Henriette Schneider, Beraterin für Kreislaufwirtschaft und ehemalige Mitarbeiterin der Deutschen Umwelthilfe. Natürlich sei die Verschmutzung der Weltmeere ein Riesenproblem. "Aber wir können gar nicht so viel Müll aus dem Meer fischen, wie jedes Jahr neu hinzukommt." Ein weiteres Problem: Je länger Kunststoffteile im Meer schwimmen, desto mehr Schadstoffe reichern sich darin an. "So etwas sollten wir auf keinen Fall auf der Haut tragen", warnt die Umweltexpertin.

Darüber hinaus ist die Herstellung neuer Produkte aus maritimem Plastikmüll mit einem enormen Aufwand verbunden. Ein Team der Hochschule Magdeburg-Stendal hat es selbst probiert und einen Brieföffner aus Meeresmüll – hauptsächlich alte Fischernetze – hergestellt. Bevor das neue Kunststoffgranulat hergestellt werden konnte, stand allerdings viel Arbeit an: Weil sich überall Muscheln und Sedimente festgesetzt hatten, mussten die Wissenschaftler den Abfall sortieren und reinigen, mit entsprechendem Wasser- und Stromverbrauch. Kurz gesagt: Ein enormer Aufwand bei relativ geringem Ertrag.

Wie kann es also sein, dass Mode aus "Ocean Plastic" in der Regel kaum teurer ist als reguläre Artikel? Oder teilweise sogar zum gleichen Preis angeboten wird? Adidas antwortet dazu: "Durch den zunehmenden Anteil von recycelten Materialien an unserer Produktpalette werden die Preisunterschiede immer geringer" – eine Aussage, die gleichwohl im Widerspruch zu den Erkenntnissen der Magdeburger Forscherinnen steht.

Die hohen Kosten dürften der Hauptgrund sein, warum "Ocean Plastic" nicht wirklich aus dem Meer stammt, sondern höchstens vom Strand. Woher genau, erfahren die Kund*innen ebenfalls nicht. Von der Ostsee? Aus Bali? Der Karibik? Meist wird auf Partnerorganisationen verwiesen, die an verschiedenen Stränden auf Sammeltour gehen und Plastikflaschen einsammeln. So landet der Unrat gar nicht erst im Meer. Herausgefischt wird er aber auch nicht.

"Natürlich ist auch Recycling wichtig", sagt Kreislaufwirtschaft-Expertin Henriette Schneider. Ihr schwebt jedoch ein deutlich besseres Prinzip vor: neue Kleidung aus alter Kleidung herstellen. "Diese Kreislaufwirtschaft fehlt aber noch fast komplett", klagt die Expertin. Stattdessen preisen Mode-Unternehmen immer neue T-Shirts, Jacken, Pullover und Schuhe an und vergrößern somit weiter den Müllberg. Allein 2021 hat die Textilindustrie über 140 Milliarden Kleidungsstücke weltweit produziert, wie aus dem "Global Plastic Outlook" der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervorgeht. Die meisten davon landeten schon nach kurzer Zeit auf dem Müll – auch solche mit vermeintlich "grünen" Labels.

"Wir wünschten, es wäre so einfach!"


Die Umweltorganisation Greenpeace hat kürzlich einen eindrucksvollen Bericht über die Folgen dieser Überproduktion veröffentlicht. Demnach türmt sich vor allem in Ostafrika ausrangierte Kleidung aus aller Welt auf stinkenden Deponien. "Dieser Textilmüll landet etwa im Fluss Nairobi, der durch die Hauptstadt Kenias fließt", schreibt Greenpeace. "An seinen und vielen anderen Ufern stapelt sich der textile Müll meterhoch. Bei jedem Regen nimmt der Fluss Massen an Stofffetzen […] mit sich und spült sie in den Indischen Ozean." Die Lumpen stammen fast immer aus den Industriestaaten, oft aus Altkleidercontainern, deren Inhalt verkauft wird. Die Modebranche, die sich mit "Ocean Plastic" als nachhaltig präsentiert, ist also in Wahrheit ein Teil des Problems.

Es gibt allerdings auch Firmen, die aus diesem Narrativ ausscheren. Der süddeutsche Taschenhersteller Nordlicht etwa spricht auf seiner Website offen darüber, warum er auf Recycling-Plastik verzichtet. "Wir wünschten, es wäre so einfach!", schreibt das Unternehmen, bezogen auf die Verheißungen von "Ocean Plastic". Dann schildert es all die Probleme, die auch die Umweltexperten nennen. Um nicht in diese Falle zu tappen, versuche die Firma, den Anteil von Plastik in ihren Produkten zu verringern und setze stattdessen auf recycelte Bio-Baumwolle.

"Die meisten Ressourcen können wir durch langlebige Kleidung sparen"


Sind solche Ansätze also die Lösung? Kreislaufwirtschaft-Beraterin Henriette Schneider tut sich schwer damit, eine bestimmte Firma zu empfehlen. Denn durch neue Produkte entstehe letztlich immer neuer Abfall, egal wie umweltfreundlich und aus welchem Material sie auch hergestellt werden. "Die meisten Ressourcen können wir durch langlebige Kleidung sparen", sagt Schneider. Statt also der Shoppinglust nachzugeben und sie lediglich auf vermeintlich "grüne" oder recycelte Klamotten zu lenken, ist ein simples Rezept viel wirkungsvoller: weniger kaufen. Von der Textilindustrie sind solche Ratschläge freilich nicht zu erwarten.

Nachhaltige Klamotten

Was man auch kauft: Ressourcen verbraucht jedes Produkt. Doch es gibt einige Tipps, den ökologischen und sozialen Fußabdruck im Kleiderschrank zu reduzieren, wenn es dir möglich ist.

  • Weniger ist mehr: Statt zehn Billig-T-Shirts zu kaufen, die nach kurzer Zeit auseinanderfallen, empfehlen sich qualitativ hochwertige Kleidungsstücke. Die sind zwar teurer, halten aber auch länger. Auch Secondhand-Läden sind ein guter Anlaufpunkt für Shoppingtouren.
  • Grüner Knopf: Wenn es doch mal neue Klamotten sein müssen, dient das staatliche Label als Orientierung. Es zeichnet Kleidung aus, bei deren Herstellung auf Menschenrechte und Umweltstandards geachtet wird. www.gruener-knopf.de
  • Secondhand: Gut erhaltene Kleidung kann man in Secondhand-Läden verkaufen. Oder an gemeinnützige Organisationen (z.B. Oxfam) sowie Kleiderkammern spenden. Textilien aus Altkleider-Containern überschwemmen hingegen oft die Märkte in Ostafrika – und landen oft genug auf wilden Müllkippen.
  • Secondhand: Entsorgen: Völlig zerschlissene Klamotten gehören in den Restmüll. In der Müllverbrennungsanlage kann zumindest noch Wärmeenergie daraus generiert werden.


„Es liegt auch an uns selbst“

Gilian Gerke ist Professorin im Fachbereich Kreislaufwirtschaft der Hochschule Magdeburg-Stendal. Sie hat im Labor untersucht, ob und wie sich Müll aus dem Meer wiederverwerten lässt.

tag eins: Wie gut lässt sich Kleidung aus Meeresplastik herstellen?

Gerke: Das ist sehr unterschiedlich. Grundsätzlich geht das technisch. Plastikflaschen zum Beispiel eigenen sich gut, weil man zum Beispiel Fleece-Pullover oder Warnwesten daraus machen kann. Allerdings müssen Sie die Kunststoffe in entsprechender Qualität erst mal finden. In den Fischernetzen landen ja alle möglichen Abfälle mit unterschiedlichen Zusammensetzungen, Farben, Alter und Verschmutzungen. Auch Holz, Metall und Glas kann dabei sein. Das alles zu trennen und zu reinigen ist enorm aufwendig.

Trotzdem sind Produkte aus „Ocean Plastic“ meist nicht teurer als konventionelle. Wie kann das sein?

Weil es sich oft um Mono-Sammlungen handelt. Das bedeutet, dass eine Firma nur Plastikflaschen einkauft, die zum Beispiel von einer Partnerorganisation am Strand gesammelt werden. Für „Ocean Plastic“ gibt es keine eindeutige Definition. Auch der Anteil an recyceltem Plastik im fertigen Produkt bleibt oft unklar.

Also klassisches Greenwashing?

Ich würde eher von einer geplanten Verbraucherverwirrung sprechen. Nehmen wir die „Ocean Plastic“-Schuhe von Adidas als Beispiel. Wer die kauft, geht davon aus, dass dafür Abfall aus dem Meer gefischt wurde. Wenn man ins Kleingedruckte schaut, merkt man aber, dass die PET-Flaschen vom Strand stammen. Natürlich nimmt sich kaum jemand die Zeit, so etwas auf der Website der Firma nachzuschlagen.

Gibt es auch Firmen, die es ernst meinen?

Die Firmen kommen und gehen, leider. Von vielem, was am Anfang viral geht, hört man nach einiger Zeit nichts mehr, zum Beispiel von der NGO „4Ocean“. Und dann gibt es noch Skandale wie bei „Got Bag“, die die ganze Branche in Verruf bringen.

Das Mainzer Unternehmen hatte behauptet, einen Rucksack aus 100 Prozent recyceltem Meeresplastik anzubieten, was laut einer Recherche der Wochenzeitung „Die Zeit“ aber nicht stimmt.

Natürlich fühlen wir uns als Kunden besser, wenn wir „nachhaltige“ Produkte kaufen. Aber wir sollten nicht alles glauben, was auf dem Etikett steht.

Wenn T-Shirts aus Meeresplastik nicht die Lösung sind, was dann?

Selber aktiv werden! Natürlich muss die Regierung etwas tun, natürlich müssen die Unternehmen transparenter werden, aber es liegt auch an uns selbst: Niemand muss sich alle drei Monate neue Kleidung kaufen. Meine Wanderhose hat 90 Euro gekostet, aber die trage ich auch fünf Jahre lang. Der erste und wichtigste Punkt ist das Vermeiden.

Lässt sich Kleidung eigentlich recyceln?

Textilrecycling steckt in den Kinderschuhen, da fängt die Forschung gerade erst an. Wenn Sie gut erhaltene Kleidung haben, können Sie sie an gemeinnützige Einrichtungen oder an die Flüchtlingshilfe spenden. Was im Altkleider-Container landet, endet hingegen oft an falschen Orten wie zum Beispiel in der Dritten Welt und produziert dort neuen Abfall. Total zerschlissene Kleidung gehört dort ohnehin nicht rein. Werfen Sie die lieber in den Restmüll, dann wird sie verbrannt und Wärme und Energie kann generiert werden – gerade heute eine wichtige Ressource.



Autor*in: Steve Przybilla

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