Schreib, was du nicht sagen kannst
Über 220 weiße Briefkästen hat die Initiative Les Papillons („Die Schmetterlinge“) an Schulen und in Sportclubs bereits aufhängen lassen. Mehr als 2.000 Briefe hat die gemeinnützige Organisation so schon erhalten. © Les Papillons
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Michaela Haas
Reporterin

Schreib, was du nicht sagen kannst

Ein Polizist lässt in französischen Schulen und Sportvereinen weiße Briefkästen aufhängen. Niemand rechnet damit, welche dramatischen Einblicke die Briefe geben werden, die die Kinder dort einwerfen. Wäre das auch ein Modell für Österreich?

Als Florence, die Leiterin einer dörflichen Grundschule im Osten Frankreichs, von Kummerkästen für ihre Schüler*innen hörte, fand sie, das sei ein nettes Projekt. Die Kinder könnten sich alles von der Seele schreiben, was sie bedrückt, erklärte Initiator Laurent Boyet den Schüler*innen. Ihre Briefe könnten sie in einen eigens aufgehängten weißen Briefkasten in der Schulkantine werfen, der jeden Tag entleert würde. Ein Team von Psycholog*innen, Ärzt*innen, Pädagog*innen und Polizist*innen würde dann versuchen, Lösungen für ihre Probleme zu finden.
„Ich fand das interessant“, sagte Florence, die zum Schutz der Identität ihrer Schüler*innen nicht mit ihrem vollen Namen genannt werden wollte, im November der Associated Press.

„Ich nahm an, dass es an meiner Schule keine größeren Probleme gibt. Aber ich dachte, so ein Briefkasten könnte nicht schaden.“


Verhaftung nach nur fünf Tagen


An einem Freitag im Juni wurde der Briefkasten in der Kantine aufgehängt. Gleich am ersten Morgen warf ein zehnjähriges Mädchen einen Brief ein. In kindlicher Sprache beschrieb sie, dass ihr Großvater sein „unteres Teil“ in ihr „unteres Teil“ stecke.


„Gegen Mittag lasen wir den Brief. Nachmittags um vier Uhr hatten wir einen Plan“, sagt Boyet im Video-Telefonat. „Am Dienstag sprach eine geschulte Psychologin mit dem Mädchen.“ Es stellte sich heraus, dass der Großvater nicht nur seine Enkelin, sondern auch zwei ebenfalls minderjährige Cousinen regelmäßig vergewaltigte. „Am Mittwoch wurde er verhaftet. Vom Brief bis zur Verhaftung vergingen genau fünf Tage“, sagt Boyet. „Der Mann sitzt jetzt in Untersuchungshaft und wartet auf seinen Prozess.“


Seit dem Frühjahr 2020 hat Boyet mit seiner Initiative Les Papillons („Die Schmetterlinge“) mehr als 220 weiße Kummerkästen an Schulen und in Sportclubs aufhängen lassen. Über 60.000 Kinder erreicht er damit, mehr als 2.000 Briefe hat seine gemeinnützige Organisation so schon erhalten.

Weißer Briefkasten der Organisation Les Papillons.
„Schreib, was du nicht sagen kannst“, steht auf den weißen Briefkästen auf Französisch. © Les Papillons

Seine Familie hatte ihn verstoßen


Hauptberuflich leitet Laurent Boyet die Polizeistation im idyllischen südfranzösischen Tourismusort Perpignan. Aber die Briefkasten-Aktion des 49-Jährigen hat keinen beruflichen Hintergrund, sondern einen privaten.
„Ich wurde als Sechsjähriger von meinem zehn Jahre älteren Bruder vergewaltigt“, sagt Boyet. „Drei Jahre lang hat er mich immer wieder vergewaltigt, und es gab absolut niemandem, mit dem ich darüber reden konnte.“ Sein Bruder habe gedroht, ihn umzubringen, wenn er jemandem davon erzähle. So vertraute Boyet sich nur seinem Tagebuch an, schrieb sich die Details des Missbrauchs von der Seele.

Erst 30 Jahre später fand er den Mut, darüber zu sprechen. „Meine Familie reagierte wie die meisten: Sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben und verstieß mich“, sagt Boyet. Seine inzwischen verstorbene Mutter habe ihm geglaubt, weil sie schon in seiner Kindheit einen Verdacht gehegt habe. Aber seine drei Schwestern hätten den Kontakt abgebrochen.


Im Jahr 2017 veröffentlichte Boyet ein Buch über seine Kindheit. Der Titel: „Alle Brüder machen das“ ­– ein Satz seines Bruders, der sich eingebrannt hatte.
Boyet beteiligte sich auch an der #MeTooInceste-Diskussion um Kindesmissbrauch in der Familie, die die französische Juristin Camille Kouchner Anfang 2021 mit ihrem Buch „La familia grande“ angestoßen hatte. Sie warf darin ihrem prominenten Stiefvater, einem sozialistischen EU-Parlamentarier, vor, ihren Zwillingsbruder jahrelang missbraucht zu haben.

Portraifoto von Laurent Boyet mit seinem Buch "Non-assistance à enfants EN DANGER"
Laurent Boyet hat in seinem autobiografischen Buch beschrieben, wie er selbst immer wieder von seinem älteren Bruder vergewaltigt wurde. Als Kind konnte er sich niemandem anvertrauen, heute will er das mit seiner Organisation Les Papillons ändern. © Les Papillons

Fallzahlen in den Pandemiejahren gestiegen


In Österreich hat die Regierung im Jänner ein neues Maßnahmenpaket zum Schutz von Kindern vorgestellt. Organisationen der Opferhilfe sollen mehr Geld bekommen, eine Kampagne soll Kindern Wissen vermitteln und ihnen zeigen, wo sie Hilfe bekommen können. Auch die Strafen sollen verschärft werden.
Anlass war der Fall des Schauspielers Florian Teichtmeister, bei dem umfangreiches Fotomaterial von sexualisierter Gewalt an Kindern gefunden wurde. Verbände wie die Bundesjugendvertretung fordern weitere Maßnahmen, um Kinder und Jugendliche umfassend vor Gewalt zu schützen. Die Geschäftsführerin der Kinderschutzorganisation „Die Möwe“, Hedwig Wölfl, wies in einer Aussendung auf das Problem der hohen Dunkelziffer hin – ein Problem, das auch an Laurent Boyet nagt.


Die offiziellen Fallzahlen gleichen sich in Österreich wie in Frankreich. 2021 und 2022 stiegen die Anzeigen wegen sexuellem Kindesmissbrauch europaweit. Warum und ob dieser Anstieg mit der Pandemie zu tun hat, ist nicht eindeutig feststellbar.

Die Zahl der Meldungen selbst könnte aufgrund der zunehmenden Online-Präsenz vieler User*innen gestiegen sein, sagt Stefan Ebenberger, Generalsekretär des Dachverbands Internet Service Providers (ISPA), zu derstandard.at. Auch funktionieren internationale Kooperationen heute deutlich besser als vor einigen Jahren. So hat beispielsweise allein die amerikanische NGO US National Center for Missing and Exploited Children (NCMEC) im Jahr 2021 fast 6.000 Verdachtsfälle an das österreichische Bundeskriminalamt gemeldet.

Über die Autorin
    Dr. Michaela Haas ist die Autorin mehrerer erfolgreicher Sachbücher, zuletzt „Stark wie ein Phönix. Wie wir unsere Resilienzkräfte entwickeln und in Krisen über uns hinauswachsen“. Sie schreibt als Reporterin von der US-Westküste aus für die New York Times, die Süddeutsche Zeitung, David Byrnes „Reasons to be Cheerful“ und andere Magazine. Sie ist davon überzeugt, dass es selbst für die drängendsten Weltprobleme eine Lösung gibt, wenn man nur intensiv genug recherchiert. www.michaelahaas.de

In jeder Klasse zwei Kinder


Expert*innen sind sich einig, dass die Dunkelziffer bei sexueller Gewalt gegen Kinder um ein Vielfaches höher ist als die Zahl der Anzeigen. Der Weltgesundheitsorganisation zufolge wurden jede fünfte Frau und jeder 13. Mann in ihrer Kindheit missbraucht. Für Österreich schätzen manche Expert*innen gar, dass jedes dritte bis vierte Mädchen und jeder siebte bis achte Bub betroffen sei.
Boyet geht davon aus, dass in Frankeich jedes Jahr mehr als 165.000 Kinder sexualisierte Gewalt erfahren. „Ein Kind alle drei Minuten, zwei Kinder in jeder Klasse“, sagt Boyet, um die Zahl zu veranschaulichen. „Und die meisten Kinder trauen sich nicht, darüber zu sprechen. Wie ich damals.“
So kam er auf das Motto, das nun auf jedem seiner Briefkästen steht: „Schreib auf, was du nicht sagen kannst.“ Bevor er und sein Team die Briefkästen installieren, gehen sie persönlich in die Schulen, um sich und ihr Projekt vorzustellen und die Kinder dazu aufzurufen, die Briefe mit ihrem Namen zu unterzeichnen, damit ihnen geholfen werden kann.



Nur zwei Prozent der Briefe sind Unfug


13 Prozent der Briefe, die ihn und sein Team auf diese Weise erreichen, betreffen Mobbing an der Schule; mehr als jeder fünfte Brief berichtet von körperlichen Misshandlungen und sieben Prozent von sexualisierter Gewalt. Rund 70 Prozent der Opfer von Gewalt seien Mädchen, sagt Boyet. Nur zwei Prozent der Briefe seien Unfug, erzählt er, „und im Zweifel, wenn wir uns nicht sicher sind, ob ein Kind es ernst meint, gehen wir dem nach. Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig.“


Gemeinsam mit den Bürgermeister*innen in den Gemeinden baut Boyet ein Netzwerk auf, „damit Kinder lernen, dass es Erwachsene gibt, denen sie vertrauen können.“ Wenn Kinder über Mobbing oder Vorfälle an der Schule klagen, intervenieren geschulte Pädagog*innen. „Durch die Briefe verfolgen wir dann weiter, ob das Problem bestehen bleibt oder gelöst wurde.“



Nicht jedes Kind hat ein Handy, um bei Rat auf Draht anzurufen


Mehr als die Hälfte der Briefe kämen von Acht- und Neunjährigen, sagt Boyet, und 15 Prozent von Sechs- und Siebenjährigen. „Das sind genau die Kinder, die ich am meisten erreichen möchte“, sagt Boyet.


Das liege nicht nur an seiner eigenen Biografie. Wie in Österreich mit der Notrufnummer 147 Rat auf Draht gibt es auch in Frankreich eine nationale Telefon-Hotline für Kinder. „Doch Kinder unter neun Jahren haben meist noch kein eigenes Handy und haben es nicht leicht, ein unbeobachtetes Telefongespräch zu führen“, sagt Boyet. „Einen Brief schreiben kann jede*r.“


Manche Kinder zeichnen. In der südfranzösischen Kleinstadt Toulon hat ein Kind, gleich nachdem ein Briefkasten montiert worden war, eine Zeichnung eingeworfen. „Darin zeigte ein oranger Blitz vom Unterleib eines Erwachsenen auf den Unterleib eines Kindes. Dem sind wir sofort nachgegangen“, erzählt Boyet. Noch ein Fall, in dem sein Team weiteren akuten Missbrauch verhindern konnte. Etwa fünf Prozent der Briefe berichteten von schwerer Gewalt, sagt Boyet, und zwei Prozent kämen von Kindern, die sich in akuter Gefahr befänden.
„Das Beste an der Methode ist, dass Kinder in eigenen Worten ungefiltert beschreiben, was sie bedrückt“, sagt Boyet, „ohne dass es von Erwachsenen beeinflusst wird.“

Nahes Portraitfoto von Laurent Boyet in schwarzweiß.
Viele Opfer - so wie er - könnten erst Jahrzehnte später darüber sprechen, was ihnen widerfahren sei. © Les Papillons

Boyet setzt sich dafür ein, Verjährung von Kindesmissbrauch abzuschaffen


Zum Namen seiner gemeinnützige Organisation, „Die Schmetterlinge“, hat ihn die heute neunjährige Lily inspiriert. Im Alter von vier Jahren wurde sie von ihrem Großvater missbraucht. Sie sprach davon, wie sehr sie Schmetterlinge liebe, weil sie bunt seien und frei davonfliegen könnten. „Schmetterlinge sind Teil des kindlichen Vorstellungswelt“, sagt Boyet. „Das hat mir sofort so gut gefallen, dass ich unsere Organisation danach benannte.“


Wie in Österreich verjährt auch in Frankreich sexueller Missbrauch an Kindern nach spätestens 20 Jahren. Boyet setzt sich aktiv dafür ein, das Verjährungsdatum für Kindesmissbrauch in Frankreich und anderen Ländern abzuschaffen. Viele Opfer - so wie er - könnten erst Jahrzehnte später darüber sprechen, was ihnen widerfahren sei.


Als nächsten Schritt arbeitet er daran, ein Schutzhaus aufzubauen, in dem sich Kinder von Gewalterfahrungen erholen können - das „Schmetterlingshaus“. Das sei ein enorm großes Projekt, sagt er, „aber wir können nicht mehr so tun, als gehe uns Kindesmissbrauch nichts an. Wir müssen aktiv werden.“

Autor*in: Michaela Haas

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