Große Last auf kleinen Schultern
Sofia Jüngling-Badia mit ihrem Vater. Auf ihrem Instagram-Kanal „unserekleinen.dahamas“ schreibt sie über das Leben als pflegende Angehörige. Bild: privat
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Naz Küçüktekin
Reporterin

Große Last auf kleinen Schultern

Laut Schätzungen gibt es mehr als 42.000 sogenannte Young Carers in Österreich. Doch wer kümmert sich um diese Kinder und Jugendlichen, die sich schon in jungen Jahren um andere kümmern?

Sofia Jüngling-Badia erinnert sich noch sehr gut an die Tage vor ihrem 18. Geburtstag. Wie aufgeregt sie war, volljährig zu werden, wie sehr sie sich freute, endlich in Klubs gehen zu können. Der 18. Geburtstag, ein bedeutsamer Tag im Leben wohl eines jeden jungen Erwachsenen. „Aber dann fing ich irgendwann an, auch darüber nachzudenken, was meine Volljährigkeit noch bedeuten wird, was für eine Verantwortung da auf mich zukommt“, erzählt Jüngling-Badia.

Seit sich die mittlerweile 26-Jährige erinnern kann, ist ihr Vater krank. Er leidet an Multipler Sklerose. Mit den Jahren kamen auch demenzielle Symptome hinzu, die seine Gesundheit einschränken. „Es war immer die Rede davon, dass ich die Sachwalterschaft für meinen Vater übernehme, sobald ich 18 Jahre alt werde“, so Sofia. Während viele ihrer Freund*innen an Schule, Ausgehen und Spaß dachten, war es für die junge Frau auch immer selbstverständlich, die Sorgearbeit ihres Vaters im Blick zu haben.

Kinder, die sich um ihre Eltern kümmern

Laut der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger (IG Pflege) sind in Österreich 947.000 Personen in die Pflege und Betreuung von Angehörigen involviert. Eine nochmal besondere Stellung in dieser Gruppe nehmen sogenannte Young Carers ein.

„Man schätzt, dass in jeder Schulklasse zwei bis drei Young Carers sitzen.“
Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der IG Pflege

Sind es in der Regel oft die Eltern, die sich um die Kinder kümmern, kommt es in vielen Familien vor, dass es genau umgekehrt der Fall ist. ___STEADY_PAYWALL___ Wenn Kinder oder Jugendliche regelmäßig ein Familienmitglied mit Pflegebedarf, Behinderung oder langfristiger Erkrankung unterstützen, werden sie als „Young Carer“ bezeichnet. Laut einer Studie aus dem Jahr 2014 gibt es 42.700 solcher jungen pflegenden Angehörigen in Österreich. „Die Dunkelziffer ist aber bestimmt noch viel höher“, ist sich Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der IG Pflege, sicher. „Man schätzt, dass in jeder Schulklasse zwei bis drei Young Carers sitzen.“

Auch wenn es dann doch nicht dazu kam, dass Sofia Jüngling-Badia mit bereits 18 Jahren die Sachwalterschaft für ihren Vater übernahm, ist sie einige Jahre später eine pflegende Angehörige. Für ihre Ausbildung und um Geld zu sparen, zog sie zunächst wieder zu ihrem Vater nach Oberösterreich zurück. Doch als sich dessen Zustand verschlechterte, übernahm sie, gemeinsam mit ihrer Großmutter sowie ihrer Schwester, immer mehr Verantwortung. Jüngling-Badia hat die Erwachsenenvertretung ihres Vaters inne. Sie richtet einen großen Teil ihres Lebens und Alltags nach der Pflege und Sorge ihres Vaters: „Derzeit gebe ich sehr viel auf, damit die Lebensqualität meines Vaters aufrechterhalten bleibt.“

Tabuisiert und mit Scham behaftet

Young Carers nehmen schon in jungen Jahren eine enorme Verantwortung auf sich. Neben klassischen Pflegetätigkeiten, wie Hilfe beim Essen, Medikamentengabe oder Körperpflege, tragen sie oft auch zusätzliche zeitintensive Aufgaben innerhalb der Familie. Sie kümmern sich um den Haushalt, betreuen Geschwister, begleiten ihre betreuungsbedürftigen Familienmitglieder zu Arztterminen, erledigen Behördenwege und bieten emotionale Unterstützung.

Dass das, was sie machen, Pflegearbeit ist, ist den meisten dabei oft gar nicht bewusst. Denn viele von ihnen wachsen mit der Pflegerolle auf, innerhalb der Familie „Hilfe“ zu leisten, wird als normal angesehen, Verantwortung und Aufgaben nehmen oft schleichend zu. „Young Carers übernehmen somit nahezu unbemerkt überdurchschnittliche pflegerische und betreuerische Verantwortung. Die Pflege eines kranken Familienmitglieds endet für diese Young Carers zumeist nicht mit dem 18. Lebensjahr, sondern geht darüber hinaus“, betont auch das Bundesministerium für Gesundheit und Soziales auf Anfrage.

„Young Carers haben Scheu, über die Situation zu Hause zu sprechen.“ Gudrun Kalchhauser, Krankenpflegerin

„Das Thema ist sehr tabuisiert und mit viel Scham behaftet“, sagt Gudrun Kalchhauser. Die diplomierte Krankenpflegerin leitet das ehrenamtliche Team des Roten Kreuzes in Krems, das sich an Young Carers richtet. Seit 2018 gibt es die Beratungsstelle. Von einem großen Andrang kann die Anlaufstelle seither aber nicht sprechen.

„Young Carers haben Scheu, über die Situation zu Hause zu sprechen. Es sind einfach oft auch unaussprechliche Dinge, um die es sich da handelt. Letztens fragte mich ein junges Mädchen, wem sie denn erzählen soll, dass sie ihrem Vater den Hintern putzt“, begründet Kalchhauser unter anderem, warum es für viele Young Carers oft so schwierig ist, über die Situation zu sprechen und Hilfsangebote in Anspruch zu nehmen.

Hinzu kommt, dass viele sich nicht wegnehmen lassen wollen, sich um die Familie zu kümmern, oder diese ihnen verbietet, darüber zu offenkundig zu sprechen. Schließlich ist es für die Angehörigen auch schwierig nach außen hin zuzugeben, dass sie, die sich eigentlich um die Kinder kümmern sollten, von ihnen und ihrer Pflegearbeit abhängig sind.

Schwer zu erreichen

Wie man Young Carers erreicht, ist laut Gudrun Kalchhauser und Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der IG Pflege, eine der größten Herausforderungen. In diesem Sinne komme vor allem jenen Berufsgruppen besondere Bedeutung zu, die regelmäßig mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben. Das sind zum Beispiel in der Gesundheits- und Krankenpflege tätige Personen, die die Möglichkeit haben, die Situation von Young Carern im Rahmen ihrer Tätigkeit „mitzudenken“ und in ihrem Bereich als Multiplikator*innen zu agieren. Sie können als Informationsscheibe agieren und auf bestehende Hilfsangebote hinweisen. Hier haben auch Schulen und Pädagog*innen eine besondere Bedeutung und Verantwortung.

Auch Gudrun Kalchhauser und ihr Team sind regelmäßig an Schulen unterwegs und versuchen in Workshops Bewusstsein für Young Carers zu schaffen. Bisher habe man sich auf die Unter- und Oberstufe beschränkt, aber derzeit arbeite man ebenfalls an einem Programm für Volksschulen. Auch ein mehrsprachiges Angebot werde auf die Beine gestellt, um migrantische Familien besser ansprechen zu können. „Über die Schule und die Lehrer*innen erreichen wir Young Carers bisher am besten“, resümiert Kalchhauser. Birgit Meinhard-Schiebel geht noch einen Schritt weiter, und fordert, dass das Thema Young Carer Teil jeder pädagogischen Ausbildung werden sollte. „Lehrer*innen kommt eine enorm wichtige Aufgabe hinzu. Deshalb muss man ihnen mitgeben, wie sie damit umgehen können“.

Darüber sprechen ist wichtig

Ein wichtiger Aufgabenbereich ist die Bewusstseinsbildung in der Öffentlichkeit. „In den letzten Jahren sind zum Beispiel österreichweite Plakataktionen in Schulen und Supermärkten erfolgt und Folder wurden verteilt. Weiters wurde die App ,Young Carers Austria‘ im November 2021 veröffentlicht“, erklärt man aus dem Sozialministerium. Auch Hilfe-Hotlines wie Rat auf Draht stehen Young Carern als Unterstützung zur Verfügung. „Oft reicht es auch, wenn man einfach mal darüber sprechen kann“, weiß die diplomierte Krankenpflegerin Kalchhauser aus ihrer langjährigen Erfahrung.

„In jenen Ländern, wo die Pflege auch als politisches Thema mit einer staatlichen Verantwortlichkeit angesehen wird, wie zum Beispiel in England, gibt es auch ein viel größeres Bewusstsein, was Young Carers angeht.“ Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der IG Pflege

IG Pflege-Vorsitzende Meinhard-Schiebel sieht in dem ganzen Thema dennoch das Problem einer gesellschaftlichen und politischen Stigmatisierung, da das Thema immer noch als familiäres Thema betrachtet wird. „Und das gilt in unseren Breitengraden als privat. In jenen Ländern, wo die Pflege auch als politisches Thema mit einer staatlichen Verantwortlichkeit angesehen wird, wie zum Beispiel in England, gibt es auch ein viel größeres Bewusstsein, was Young Carers angeht“, erklärt Meinhard-Scheibel. Neu sei es zu dem ja ohnehin nicht, betont sie. Einen der ersten Young Carer in der Literatur findet in man etwa in „Pünktchen und Anton“: einem Kinderbuchklassiker von Erich Kästner aus dem Jahr 1931, in dem die Geschichte eines Zwölfjährigen erzählt wird, der sich nach der Schule um seine kranke Mutter und den Familienhaushalt kümmert.

Die fehlende politische Vertretung von Young Carern sieht auch Kalchhauser als großes Problem. „Wir haben so viele Young Carer in Österreich, wie St. Pölten Einwohner*innen hat. St. Pölten hat einen Bürgermeister, der die Anliegen der Bürger*innen vertritt. Wen haben die Young Carer?“, fragt sie.

Aufmerksamkeit für Young Carer zu generieren, ist für Sofia Jüngling-Badia auch einer der Gründe, wieso sie ihren Alltag als pflegende Angehörige auf ihrem Instagram-Kanal „unserekleinen.dahamas“ teilt und öffentlich macht. Das Gefühl, allein mit dem Thema zu sein, möchte sie so ein wenig lindern. „Sich mit anderen zu vernetzen, darüber zu sprechen, hilft wirklich sehr“, so Jüngling-Badia. Insgesamt wünscht sie sich mehr Räume, wo Young Carers sich austauschen können und Unterstützung erfahren. Und ein Bewusstsein für die vielen jungen Menschen, die in Österreich pflegen.

Dieser Text ist zuerst im MO-Magazin erschienen.

Autor*in: Naz Küçüktekin

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