Ob du Matura machst, entscheidet sich in der Volksschule
Kinder, die gleich viel können, kommen nicht gleich wahrscheinlich aufs Gymnasium, sagt der Bildungssoziologe Philipp Schnell. Bild: treety / iStock by Getty Images
Dominik Ritter-Wurnig's Picture
Dominik Ritter-Wurnig
Gründer

Ob du Matura machst, entscheidet sich in der Volksschule

Bildungsungleichheit wird in Österreich vererbt. Die Politik tut wenig, um das zu ändern. tag eins hat exklusiv einen Datensatz aller österreichischen Volksschulen ausgewertet und zeigt, wo die AHS-Quote am höchsten ist.


Wenn in Österreich über Probleme in Schulen diskutiert wird, geht es schnell um  die deutsche Sprache, Integration und Migrant*innen. So auch jetzt gerade. „Familiennachzug bringt Schulen in Bedrängnis“, schreibt der ORF, weil derzeit monatlich 300 bis 500 schulpflichtige Kinder nach Wien einwandern. „Schaffen wir das?“, fragt Der Standard schwarzmalerisch. 

Es lohnt der Realitätscheck: Bei 115.000 Pflichtschüler*innen in Wien sind zusätzliche 5.000 Schüler*innen in einem Jahr herausfordernd, aber sicher nicht überwältigend. Natürlich sind Container-Klassen nicht schön – trotzdem gibt es sie in Wien schon seit 1971(!), Kritik daran gibt es immer wieder. Während Scheindiskussionen über die Residenzpflicht von Asylwerber*innen und Aufnahmestopps geführt werden, bleibt ein grundlegendes Problem der österreichischen Bildungspolitik ungelöst: Die große Bildungsungleichheit wird vererbt. 

Längst weiß man, dass in Österreich die Trennung nach vier Jahren Volksschule zu früh kommt. Dass sich daran bald etwas ändert, ist politisch unrealistisch. Doch jetzt – kurz vor der Nationalratswahl – lohnt es sich, über eine simple Reform nachzudenken, die von der Arbeiterkammer bis zur Agenda Austria viele Fürsprecher hat. Aber dazu später mehr.

Was bestimmt, ob jemand Matura macht

Nicht Intelligenz oder Fleiß sind ausschlaggebend für den Schulerfolg, sondern in welche Familie Kinder hineingeboren werden. Laut der aktuellen Bildungskompetenzmessung BIST aus dem Jahr 2018 sind Kinder aus Akademikerfamilien am Ende der Volksschulzeit Kindern aus bildungsfernen Haushalten fast drei Schuljahre voraus

Als Vater eines Fünfjährigen kann ich bestätigen: Die Volksschulwahl ist bei uns am Spielplatz das Smalltalk-Thema Nummer eins.

Aber nicht nur das Elternhaus, auch die Schulwahl ist entscheidend. Wer heute in der Stadt auf eine Mittelschule geht, hat es sehr schwer, noch auf eine höhere Schule zu kommen. Um in die AHS aufgenommen zu werden, brauchen Kinder ein gutes Halbjahreszeugnis in der 4. Klasse Volksschule. Ob das Kind später Matura machen wird, entscheidet sich also in der Volksschule. Dort, wo es Auswahlmöglichkeiten gibt, etwa in Städten oder im verdichteten ländlichen Raum, wissen die Eltern das instinktiv. Als Vater eines Fünfjährigen kann ich bestätigen: Die Volksschulwahl ist bei uns am Spielplatz das Smalltalk-Thema Nummer eins. Doch es mangelt an Daten und Informationen, um eine qualifizierte Entscheidung zu treffen. 

Für tag eins habe ich exklusiv einen Datensatz der knapp 3.000 österreichischen Volksschulen ausgewertet, der zeigt, wie viele Schüler*innen je Volksschule ins Gymnasium bzw. in die Mittelschule kommen. 

  • Gering ist die AHS-Rate etwa in großen Volksschulen in Favoriten (Wien), Wetzelsdorf (Graz), Neustadt (Wels), Schwanenstadt, Jenbach, Donaustadt (Wien), Rudolfsheim-Fünfhaus (Wien) oder Maxglan (Salzburg-Stadt).
  • Der Anteil der Schüler*innen, die nach der 4. Klasse Volksschule in eine AHS wechseln, ist sehr unterschiedlich. So wechseln etwa von der VS Teichgasse in Leoben viel mehr Kinder ins Gymnasium als von den anderen drei Volksschulen im gleichen Ort.
  • In besonders kleinen Schulen mit weniger als vier Klassen oder unter 80 Schüler*innen haben die Daten keine Aussagekraft. Dass aus kleinen Schulen in Alpentälern wenige Kinder ins Gymnasium wechseln, erklärt sich über weite Schulwege.
  • (Große) Volksschulen, wo etwa 80 oder 90 Prozent einer 4. Klasse ins Gymnasiums wechseln, sind relativ häufig Privatschulen – zum Teil wechseln die Schüler*innen auf höhere Schulen beim gleichen Träger.

Der Ex-Arbeiterkammer-Bildungssoziologe Philipp Schnell sagt: „Die Wahl der Volksschule ist mitverantwortlich für die Bildungskarriere. Die Ergebnisse der Bildungskompetenzmessung zeigen, dass Kinder, die gleich viel können, nicht gleich wahrscheinlich ins Gymnasium gehen. Maßgeblicher Faktor ist das Bildungsniveau der Eltern.“ Das sieht man auch, wenn man die Daten auf lokaler Ebene analysiert. In Wien-Donaustadt gibt es Einfamilienhausgegenden, große Gemeindebauten, hochpreisige Wohnhochhäuser – dort, wo das Wohnen teurer ist, wechseln tendenziell auch mehr Kinder in Gymnasien.

Warum wir keine besseren Daten über Schulen bekommen

Hier braucht es einen kurzen Einschub. Die Daten sind messy, eine Momentaufnahme und nur bedingt aussagekräftig. Denn zum Schutz der Privatsphäre der Schulen werden Zahlen nur veröffentlicht, wenn mehr als sechs Schüler*innen in eine bestimmte Schule wechseln. Wenn aber je fünf Schülerinnen in fünf verschiedene Mittelschulen wechseln, tauchen sie in der veröffentlichten Statistik nicht mehr auf. Daher geben die Daten eher einen ungefähren Eindruck. Auswerten konnte ich die Daten nur dank des Programmierers Mario Zechner, der die Daten von der Schulatlas-Webseite der Statistik Austria gescrapt, also extrahiert hat – hier kann sie jetzt jede*r runterladen. Bildungsdirektion, Bundesministerium und Statistik Austria ließ mich mit meiner Presseanfrage abblitzen.

In Österreich sind Bildungsdaten Herrschaftswissen. Die Daten über Qualität, Outcome, soziale Zusammensetzung und Erfolg sind zwar  vorhanden, aber nicht für die Öffentlichkeit verfügbar. Das Bildungsdokumentationsgesetz sorgt dafür, dass Schulen datenschutzrechtlich wie Personen zu behandeln sind.

Damit hierzulande eine ehrliche Diskussion über Chancengerechtigkeit und Bildungsbenachteiligung geführt werden kann, braucht die Öffentlichkeit Zugang zu den Daten.

Die Sorge ist groß, dass die Qualitätsdaten über Schulen zu Rankings durch Medien führen und den fragilen sozialen Lernort Schule unter Druck setzen. „Die Erfahrungen aus anderen Ländern, in denen bereits Schulrankings [...] umgesetzt wurden, zeigen, dass ambivalente und negative Befunde die positiven übertreffen“, schreibt die Bildungsforscherin Ann Cathrice George vom Institut des Bundes für Qualitätssicherung im österreichischen Schulwesen (IQS) in einem Fachbeitrag. Durch veröffentlichte Daten der Kompetenzmessung und darauf folgende Rankings würden sich laut George weder die Chancengleichheit noch die Unterrichtsqualität verbessern.

Doch statt auf fundierte Messungen zurückzugreifen, verlassen sich Eltern auf weiche Faktoren wie ihr Bauchgefühl, den Ruf einer Schule oder Erfahrungsberichte. Der Zugang zu solchen Informationen ist ungleich verteilt; auch hier sind Eltern mit hohem Bildungsgrad und gutem Netzwerk im Vorteil. Wissen bedeutet Macht; Daten gelten nicht zu Unrecht als das Gold des digitalen Zeitalters. Es ist fatal, Eltern hier im Dunkeln zu lassen. Privatschulen boomen wohl auch daher, weil man ihnen eine höhere Qualität unterstellt.

Dieses Tappen im Dunkeln spiegelt sich auch in der politischen Auseinandersetzung um Chancengerechtigkeit wider. Man erinnert sich zurück: Der sogenannte PISA-Schock in Deutschland und verspätet auch in Österreich in den Nullerjahren führte dazu, dass Bildung als politisches Feld an Bedeutung gewann. Konsterniert stellt der PISA-Österreich-Chef Günter Haider 2004 fest: „Man mag es drehen und wenden, wie man will: In allen drei Domänen sind unsere 15-/16-Jährigen im internationalen Vergleich bestenfalls Mittelmaß.“ Das stand im krassen Gegensatz zur bis dahin vorherrschenden positiven Selbstwahrnehmung des Schulsystems. Damit hierzulande eine ehrliche Diskussion über Chancengerechtigkeit und Bildungsbenachteiligung geführt werden kann, braucht die Öffentlichkeit Zugang zu den Daten.

Chancen ungleich verteilt

Zurück zu den Schuldaten: Laut dem Bildungsforscher Schnell gehen Unterschiede in der schulischen Leistung von Kindern unterschiedlicher sozialer Herkunft auf ungleiche Verfügbarkeit von Bildungsressourcen und lernförderlichen Bedingungen zurück. „Dabei kann es um ökonomisches Kapital gehen, wenn wenig Geld zu fehlenden Lernmaterialien, der verhinderten Teilnahme an Freizeitangeboten oder zum Fehlen von Nachhilfemöglichkeiten führt“, sagt Schnell. „Die ungleichen Bildungsressourcen können auch aus fehlendem kulturellen Kapital resultieren, wenn Eltern selbst das Wissen von schulischen Anforderungen und Abläufen fehlt oder sie selbst ihre Kinder bei Lerninhalten nicht unterstützen können.“

Die Arbeiterkammer hat sich berechnen lassen, wie die Schulen österreichweit verteilt sind, wo besonders viele Menschen mit schlechten Bildungschancen leben und diese Bildungsbenachteiligung in sieben Kategorien geteilt. In der Kategorie 1 sind Schulen mit vielen Akademiker*innen-Eltern, die zu Hause in der Regel Deutsch sprechen. Am anderen Ende der Skala, in der Stufe 6 und 7 sind Schulen, wo Eltern geringe Bildungsabschlüsse haben und zu Hause oft eine andere Sprachen gesprochen wird. Neben dem Bildungsstand der Eltern wird etwas geringer gewichtet, die Umgangssprache zu Hause herangezogen.

Schüler*innen deren Eltern Pflichtschulabschluss haben und deren Umgangssprache nicht Deutsch ist, haben die höchste Bildungsbenachteiligung – das deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Bildungsstandardtestung. Den höchsten Anteil an Schulen mit hoher Bildungsbenachteiligung gibt es in Margareten (Wien), Brigittenau (Wien) und Ottakring (Wien).

In der Margareten und Brigittenau haben Volksschulen sehr hohes Maß an Bildungsnachteil. Die AHS-Quote bei den Volksschulabgänger*innen schwankt in den beiden Bezirken mit 14 bis 40 Prozent im unteren Mittelfeld. Umgekehrt liegen die Schulen mit der geringsten Bildungsbenachteiligung in den Bezirken Wieden (Wien), Hietzing (Wien), Währing (Wien) und Mödling (NÖ).

Was tun gegen diese Ungerechtigkeit

„Niemand darf das Recht auf Bildung verwehrt werden“, heißt es in der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Realität in Österreich sieht anders aus – nicht alle Kinder haben gleiche und gerechte Chancen. Um diese Chancengerechtigkeit zu verwirklichen, hat sich in der Forschung und in Modellversuchen ein Weg herausgebildet: sogenannte Brennpunktschulen zielgerichtet mit mehr finanziellen Mitteln unterstützen. 

„Man muss Rahmenbedingungen schaffen, um einen Schulstandort besser auszustatten, damit dieser in mehr Lehrpersonal, bessere Bedingungen und Weiterbildung investieren kann“, sagt Bildungsforscher Schnell. „Momentan bekommen alle Schulen das gleiche Geld – gemessen an der Anzahl der Schüler*innen.“ Um Gerechtigkeit herzustellen, muss man jenen, die stärker benachteiligt sind, auch stärker unter die Arme greifen.

Die bisherigen Schritte in Österreich sind ein Tropfen auf den heißen Stein. So hat die Wiener Stadtregierung das Bildungsversprechen ausgerufen und unterstützt damit 22 Schulen in „herausfordernden Lagen“ mit jeweils 92.000 bis 120.000 Euro. „Das Hauptziel des Wiener Bildungsversprechens ist es, Schulen individuell zu begleiten und zu beraten, um die Qualität des Standorts zu verbessern“, sagt die Projektleiterin Petra Loinger. So erarbeiten Organisationsentwicklungsberater*innen mit dem Personal aus der Schule konkrete Veränderungsziele und coachen die Direktor*innen.

Im englischsprachigen Diskurs spricht man immer öfter von „Chancengerechtigkeit“ oder „Chancengleichheit“ (equity) statt Gleichberechtigung (equality). Die Idee ist, dass Menschen unterschiedliche individuelle Unterstützung brauchen, um Barrieren und Hindernisse zu überwinden. Viel besser lässt sich das aber durch dieses Bild erklären. Bild: istockphoto

Aus Bundesmitteln finanziert wird das Pilotprojekt „100 Schulen – 1000 Chancen“ (Gesamtvolumen: 15 Millionen Euro), in dem erforscht wird, wie 100 Schulen mit besonderen Herausforderungen gezielt und stärker bedarfsorientiert unterstützt werden können. Ein erster wissenschaftlicher Bericht ist für Ende des Jahres vorgesehen. Expert*innen vermuten, dass die Erkenntnisse zu spät kommen könnten für die nächsten Koalitionsverhandlungen.

Beide Programme sind sicher keine schlechte Idee, aber in Anbetracht von 224 Schulen mit extrem hoher Bildungsbenachteiligung können die beiden Projekte das Problem nicht lösen. 

Deutschland legt vor

Deutschland hat gerade das Startchancen-Programm ins Leben gerufen und investiert 20 Milliarden Euro verteilt auf zehn Jahre in rund 4.000 Schulen – 10 Prozent aller Schüler*innen – mit einem hohen Anteil sozial benachteiligter Schülerinnen und Schüler. Das Ziel: Die Zahl der Schüler*innen, die die Mindeststandards in Mathematik und Deutsch verfehlen, soll an den geförderten Schulen halbiert werden. Nebenbei soll das Programm zur demokratischen Teilhabe befähigen und sozio-emotionale Kompetenzen stärken.___STEADY_PAYWALL___

Ein ähnlich ambitioniertes Programm wie Deutschland fordert die Arbeiterkammer: den sogenannten Chancenindex. Alle Schulen sollen demnach eine Basisfinanzierung erhalten und je nachdem wie viele Schüler*innen schlechte Bildungschancen haben, soll mehr Geld zur Verfügung stehen. Die zusätzlichen Mittel sollen in pädagogisches Unterstützungspersonal, administrativen Support und mehr Förderangebote fließen.

„In der Fachcommunity gibt es eine große Einigkeit, dass wir zielgerichtet etwas machen müssen für Schulstandorte, wo eine große Zahl der Kinder aus sozioökonomisch schwierigen Verhältnissen kommt. Man muss sich das vorstellen: Sogar die Agenda Austria fordert ein Chancenindex-Modell nach dem Vorbild der AK“, sagt Schnell. „Der Chancenindex ist nicht die Lösung für alle Probleme im Bildungsbereich, aber er kann einen Ausgleich für die stark ausgeprägte Bildungsungleichheit schaffen.“

Diese Recherche haben die Mitglieder von tag eins ermöglicht. Werde Mitglied, wenn du unabhängigen Journalismus ermöglichen willst.

tag eins bist du.

Nur mit deiner Unterstützung, deinem regelmäßigen Mitgliedsbeitrag, können wir unabhängig recherchieren und sorgfältigen Journalismus machen.

30 Tage kostenlos testen

Das haben wir auch noch für dich:

Selbst schuld?
Elisabeth Oberndorfer's Picture
Elisabeth Oberndorfer
Kolumnistin

Selbst schuld?

28 Prozent aller Privatkonkurse sind selbst verschuldet, berichtet der Kreditschutzverband in seiner aktuellen Statistik. Aber was heißt persönliches Verschulden, wenn die finanzielle Bildung für Kinder und Erwachsene fehlt?