Erst die Arbeit, dann die Familie
Zehntausende Menschen demonstrierten im Juni 2018 gegen den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche. Bild: Willfried Gredler-Oxenbauer / picturedesk.com
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Emil Biller
Reporter

Erst die Arbeit, dann die Familie

Vor mehr als sechs Jahren wurde die ÖVP-FPÖ-Regierung angelobt. Aber welche großen Reformen hat Türkis-Blau damals eigentlich beschlossen und was ist davon übrig geblieben? Der vierte und letzte Teil der tag-eins-Serie über das Vermächtnis von Türkis-Blau.


Und wie lange willst du in Zukunft arbeiten? Diese Frage spaltet Wirtschaft und Gesellschaft, denn Arbeit betrifft uns alle. Die Tendenz ist recht klar: Immer mehr Menschen, vor allem junge, verzichten freiwillig auf Geld, wenn sie dafür weniger arbeiten müssen. Selbst der aktuelle ÖVP-Bundeskanzler Karl Nehammer schließt eine Erhöhung der regulären Arbeitszeit auf 41 Stunden pro Woche dezidiert aus, wie sie etwa die Industriellenvereinigung vor kurzem gefordert hat. 

Vor ein paar Jahren hat das noch anders ausgesehen. Der politische Wille von Türkis-Blau zu mehr Arbeit hat sich in dem Gesetz zur sogenannten Arbeitszeitflexibilisierung manifestiert. Andere arbeitsmarktpolitische Anreize wie die Aktion 20.000, die Langzeitarbeitslose zurück ins Arbeitsleben führen sollte, wurden hingegen eingestampft. Auch in der Familienpolitik hat die Regierung Kurz-Strache umgerührt. tag eins blickt ein viertes und letztes Mal in die türkis-blaue Vergangenheit.

Zu Teil Teil eins der Serie zu Asyl- und Sozialpolitik geht es hier, zu Teil zwei der Serie über die Fusion der Sozialversicherungsträger hier und zu Teil 3 der Serie über Sicherheitspolitik hier.

Nur flexiblere Arbeitszeit oder doch mehr Arbeit?

Es gilt wohl als eines der umstrittensten arbeitspolitischen Gesetzespakete der letzten türkis-blauen Regierung: die Novelle des Arbeitszeitgesetzes, die am 1. September 2018 in Kraft getreten ist. Damit wurde die „Maximalarbeitszeit“ pro Tag auf 12 Stunden und pro Woche auf 60 Stunden angehoben. Die Regierungsparteien argumentierten mit einer Anpassung an eine veränderte Arbeitswelt. Die Opposition, allen voran die SPÖ, kritisierte den Abbau von Arbeitnehmer*innenrechten und, dass Arbeitnehmer*innen sich dazu verpflichtet fühlen könnten, mehr arbeiten zu müssen. Aber: Die ausdrückliche Freiwilligkeit dieser möglichen Überstunden wurde durch einen Abänderungsantrag von ÖVP und FPÖ im Gesetz festgehalten.

Die Frage, ob die Menschen heute, fast sechs Jahre nachdem das Gesetz in Kraft getreten ist, tendenziell mehr arbeiten oder weniger, lässt sich nicht so einfach beantworten. Ein Blick in die Statistik zeigt, der Höhepunkt der insgesamt geleisteten (bezahlten) Arbeitszeit in den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde 2019 erreicht, danach kam es wohl hauptsächlich durch die Pandemie zu einem leichten Einbruch. Immer mehr Menschen sind berufstätig, im Durchschnitt sinkt aber die Zahl der gearbeiteten Wochenstunden. Es gibt Hinweise darauf, dass die Menschen in Österreich tendenziell eigentlich weniger Stunden arbeiten wollen, wie etwa eine Studie der IMC Krems zeigt, in der knapp die Hälfte der Befragten mehr Vorteile als Nachteile in der Vier-Tage-Woche sehen. 

Für den Tourismus wurde damals im Zuge der Novelle eine verkürzte Ruhezeit von elf auf acht Stunden pro Tag bei geteilter Arbeitszeit im Gesetz festgeschrieben. Heute kämpft die Tourismusbranche mit einem massiven Arbeitskräftemangel. Um dem entgegenzuwirken, wäre es laut Expert*innen notwendig, die Arbeitsbedingungen attraktiver zu gestalten, also das genaue Gegenteil der Maßnahme von Türkis-Blau. 

Arbeitsmarktpolitische Sparmaßnahmen

Die arbeitsmarktpolitische Handschrift der ÖVP-FPÖ-Regierung zeigte sich auch im Umgang mit Projekten wie der Aktion 20.000. Diese Aktion, ein Prestigeprojekt des SPÖ-Kanzlers Christian Kern, zielte darauf ab, Langzeitarbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sowohl die Aktion 20.000 als auch der sogenannte Beschäftigungsbonus, bei dem Unternehmen für neue Mitarbeiter*innen einen Zuschuss zu den Lohnnebenkosten bekommen haben, wurden unter Türkis-Blau nicht weiter fortgeführt.

Diese Maßnahmen waren Teil des türkis-blauen Versuches, Staatsausgaben einzusparen. Statt den unter der SPÖ-geführten Vorgängerregierung vorgesehenen 1,9 Milliarden Euro für das AMS im Jahr 2018 stellte die Regierung im Endeffekt nur knapp 1,51 Milliarden Euro für das AMS bereit, was zu viel Kritik führte. Es lässt sich zusammenfassen: Die Kurz-Strache-Regierung hat bei arbeitsmarktpolitischen Projekten den Sparstift angesetzt. 

Weniger Geld für Kinder im Ausland

Den „leistenden“ Familien gegenüber war Türkis-Blau hingegen positiv gesinnt. Ein Steckenpferd war der sogenannte „Familienbonus Plus“. Dabei können Familien, die genug Einkommen haben, bis zu 1.500 Euro pro Kind und Jahr von der Steuer absetzen, 2022 wurde dieser Betrag sogar auf 2.000 Euro angehoben. Ziel dieses Bonus: Sogenannte Mittelstandsfamilien für ihre Leistung belohnen. 

Auf der anderen Seite setzte Türkis-Blau auch die sogenannte Indexierung von Familienleistungen wie der Familienbeihilfe und des Kinderabsetzbetrags um. Vieldiskutiert und 2022 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) als diskriminierend aufgehoben, galt sie als ein weiteres Leuchtturmprojekt der Kurz-Strache-Regierung. 

Unterstützungsleistungen für im Ausland lebende Kinder von EU-Bürger*innen, die in Österreich arbeiten, sollten an das Preisniveau des jeweiligen Landes angepasst werden. Ein Beispiel: Eine in Österreich in der 24-Stunden-Pflege arbeitende Mutter aus Rumänien bekam durch die Indexierung nur mehr einen Bruchteil der österreichischen Familienbeihilfe für ihre in Rumänien lebenden Kinder, da das Lohn- und Preisniveau dort niedriger ist. Umgekehrt bekamen in Österreich arbeitende Personen aus Irland mit dort lebenden Kindern mehr Geld vom österreichischen Staat. 

Dieses Gesetz wurde 2022 aufgehoben, weil es gegen EU-Recht verstößt, und infolge vom Nationalrat repariert. Österreich musste insgesamt 337 Millionen Euro an Rückzahlungen leisten, wie eine parlamentarische Anfragebeantwortung zeigte. Das gesamte Projekt verursachte laut dieser Beantwortung insgesamt Mehrkosten von rund 117.000 Euro. Steuergeld, das in einem Nicht-Österreicher*innen diskriminierenden Projekt von Türkis-Blau verpuffte. Familienministerin Susanne Raab (ÖVP) akzeptierte das EuGH-Urteil zwar, fand damals in einer Reaktion aber eine „Anpassung der Familienleistungen für Kinder, die im Ausland leben, an die dortigen Lebensumstände nur fair“.  

Persönlicher Feiertag mit Rauchverbot

Zwei persönliche Highlights möchte ich zum Abschluss dieser Serie noch anbringen. Erstens: Ohne Ibiza gäbe es möglicherweise kein allgemeines Rauchverbot in der Gastronomie. Das dazugehörige Gesetz wurde bereits 2015 (!) beschlossen und wäre im Mai 2018 in Kraft getreten. Doch die türkis-blaue Koalition kippte es zwei Monate vor diesem Zeitpunkt. Im Juli 2019, nach Ibiza und dem Zerfall der türkis-blauen Regierung, beschloss es der Nationalrat dann gegen die Stimmen der FPÖ erneut. Zuvor hatten über 900.000 Österreicher*innen ein Volksbegehren dafür unterschrieben. Seit November 2019 ist Österreichs Innengastronomie komplett rauchfrei.

Für mich persönlich gibt es wenige politische Entscheidungen in der jüngeren Vergangenheit, die sich spürbarer auf mein Leben ausgewirkt haben als das Rauchverbot in der Gastronomie. Heute kann ich mir gar nicht mehr richtig vorstellen, wie es war, als jeder Beislbesuch einen obligatorischen Waschgang zur Folge hatte und man in Rauchschwaden im Kaffeehaus saß.

Zweitens: Ostern ist dieses Jahr zwar schon vorbei, aber vielleicht hast du dir ja den Karfreitag als deinen persönlichen Feiertag ausgesucht. Das ist nämlich seit 2019 und dank Türkis-Blau möglich. Damals wurde der Karfreitag als Feiertag für Arbeit­nehmer­*innen evangelischer, methodistischer und altkatholischer Religions­zugehörigkeit abgeschafft – der Karfreitag ist seitdem also „ka frei Tag“ mehr (Entschuldigung, diesen Kalauer konnte ich mir nich verkneifen.). 

Stattdessen kann sich jede*r Arbeitnehmer*in einmal im Jahr einen persönlichen Feiertag genehmigen, den der*die Arbeitgeber*in akzeptieren muss (er wird allerdings vom Urlaubsanspruch abgezogen). Wenn du bisher darauf vergessen hast, gönne dir das in Zukunft. Eine Möglichkeit dafür wäre etwa der 17. Mai, der Tag der Veröffentlichung des Ibiza-Videos.

Das war die tag-eins-Serie über das politische Vermächtnis von Türkis-Blau. Hier geht es zu Teil eins der Serie zu Asyl- und Sozialpolitik, Teil zwei der Serie über die Fusion der Sozialversicherungsträger und Teil drei der Serie über Kickls Sicherheitspolitik.
Autor*in: Emil Biller

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