Was von der Asyl- und Sozialpolitik unter Kurz und Strache noch übrig ist
Ein Bild wie aus einer anderen Zeit: Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei der Angelobung der türkis-blauen Regierung im Dezember 2017. Bild: STARPIX/klatu
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Emil Biller
Reporter

Was von der Asyl- und Sozialpolitik unter Kurz und Strache noch übrig ist


Vor mehr als sechs Jahren wurde die ÖVP-FPÖ-Regierung angelobt. Aber welche großen Reformen hat Türkis-Blau damals eigentlich beschlossen und was ist davon übrig geblieben? Teil 1 der tag-eins-Serie über das Vermächtnis von Türkis-Blau.


Vielleicht geht es dir ja ähnlich wie mir. Beim Gedanken an eine Neuauflage von Türkis-Blau läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Und das hat nicht ausschließlich mit der menschenfeindlichen Politik der FPÖ und der augenscheinlichen Korruptionsanfälligkeit der türkisen ÖVP zu tun.

Angesichts aktueller Umfragewerte ist ein Rematch von ÖVP und FPÖ – diesmal sogar unter FPÖ-Führung – nicht auszuschließen.

Wir erinnern uns: Zwei Jahre lang saßen Kanzler Sebastian Kurz und Vizekanzler Heinz-Christian Strache an den Hebeln der Macht. Das Video einer durchzechten Partynacht auf Ibiza mit locker sitzenden Zungen führte zu einem Ende der ansonsten betont harmonischen Zusammenarbeit. Tag eins hat sich angeschaut, was heute – fast fünf Jahre nach dem Ende der türkis-blauen Koalition – noch von den Gesetzen und angekündigten Reformen übrig ist. Spoiler-Alert: Nicht viel. 

Besonders im Sozial- und Asylbereich lässt sich die migrationsfeindliche Handschrift von Türkis-Blau gut erkennen. Viele Regelungen in diesem Bereich wurden in den vergangenen Jahren vom Verfassungsgerichtshof (VfGh) aufgehoben, da sie bewusst bestimmte Menschen(gruppen) benachteiligen. 

Sozialhilfe neu statt Mindestsicherung

Aus der Mindestsicherung wurde unter Türkis-Blau die sogenannte „Sozialhilfe neu“. Statt den für die Mindestsicherung bisher üblichen namensgebenden Mindestbeträgen, die Sozialhilfebezieher*innen von den Bundesländern in unterschiedlicher Höhe ausgezahlt bekommen haben, wurden durch die Reform von der Bundesregierung Höchstbeträge festgesetzt. Die Bundesländer dürfen demnach nach oben hin nicht mehr so viel Sozialhilfe auszahlen, wie sie es für angemessen halten, sondern müssen sich an die Vorgaben des Bundes halten. 

Außerdem wurde die Auszahlung der vollenSozialhilfe neu“ an den Nachweis eines gewissen Deutsch- bzw. Englischniveaus geknüpft und abnehmende Höchstgrenzen für Zuschläge bei mehreren Kindern beschlossen. Konkret betrugen sie für das erste Kind 25 Prozent, für das zweite Kind 15 Prozent, für das dritte und jedes weitere Kind fünf Prozent des Ausgleichszulagenrichtsatzes. Der VfGh hob diese Bestimmungen bereits 2020 als „sachlich nicht gerechtfertigt“ und Mehrkindfamilien benachteiligend auf. 

Erst jüngst aufgehoben hat der VfGh die Bestimmung rund um die Gewährung von Sachleistungen in der „Sozialhilfe neu“. In bestimmten Situationen, etwa bei dem Risiko von besonderen Härtefällen oder um besonderen Wohnbedarf zu decken, können die Bundesländer über die Höchstbeträge hinaus Unterstützung zur Verfügung stellen – allerdings nur in Form von Sachleistungen. Der VfGh sieht darin einen Widerspruch zum Gleichheitsgrundsatz.

Rechtsberatung für Asylsuchende durch das Innenministerium

Für besonders viel Kritik unter anderem von Hilfsorganisationen hat 2019 die Überführung der Beratungsleistungen für Asylsuchende in eine neue Agentur des Innenministeriums gesorgt. Die sogenannte BBU (Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen) kümmert sich seit 2021 um die Betreuung und rechtliche Beratung von Asylsuchenden. Zuvor wurde die Rechtsberatung vor allem von unabhängigen Hilfsorganisationen getragen. 

Ein kleiner Exkurs ins Asylrecht: Wenn eine Person in Österreich um Asyl ansucht und einen Asylantrag stellt, dann liegt das in der Zuständigkeit des Innenministeriums, konkret beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA). Ist Österreich grundlegend zuständig, entscheidet das BFA über den Asylantrag. Wird gegen die Entscheidung des BFAs eine Beschwerde eingelegt, gelangt der Fall vor das Bundesverwaltungsgericht. Im Zuge dieses Prozesses haben die Asylsuchenden einen Anspruch auf eine kostenlose rechtliche Beratung, die sie über ihre Rechte und Pflichten im Asylverfahren aufklärt. 

Bis 2021 führten diese Beratung vor allem unabhängige Organisationen wie die „Diakonie“ und kleinere Vereine durch. Unter FPÖ-Innenminister Kickl wurde die Rechtsberatung in eine zu 100 Prozent im Eigentum des Innenministeriums stehende Agentur, die BBU, überführt. ___STEADY_PAYWALL___ Der VfGh hat dieses Vorgehen vergangenes Jahr als teilweise verfassungswidrig eingestuft. 

So sei die Eingliederung der Rechtsberatung in die BBU zwar grundlegend rechtmäßig, die Unabhängigkeit der Rechtsberater*innen der BBU sei aber nicht ausreichend gesetzlich abgesichert. Der Rechtsschutz sei damit nicht effektiv gewährleistet. Die Geschäftsführung der BBU ist nämlich an die Weisungen von Justiz- und Innenminister*innen gebunden. Bis 1. Juli 2025 muss das gesetzlich neu geregelt werden.

Schärfere Asylgesetze, Ausreisezentren und Medienerlass

Bereits 2018 wurden etliche Verschärfungen im Asylrecht umgesetzt. So kann die Exekutive seit damals auf die Mobiltelefone von Asylsuchenden zugreifen, wenn „Zweifel an ihrer Identität oder an ihrer Fluchtroute bestehe“. Außerdem hat die Polizei seitdem die Möglichkeit, Geflüchteten im Zuge der Einbringung von Asylanträgen Bargeld bis zu 840 Euro als Beitrag zur Grundversorgung abzunehmen. Die Mindestwartefrist auf die österreichische Staatsbürgerschaft für anerkannte Geflüchtete wurde von sechs auf zehn Jahre verlängert.

Aus symbolischen Gründen hat Kickl damals aus den Erstaufnahmezentren, also jene Unterkünfte, in denen Geflüchtete untergebracht werden, bevor sie zum Asylverfahren zugelassen werden, sogenannte „Ausreisezentren“ gemacht. Außerdem hat Kickl damals einen Medienerlass innerhalb des Innenministeriums durchgesetzt, wonach grundsätzlich die nationale Herkunft und der Aufenthaltsstatus von Tatverdächtigen in Presseaussendungen der Landespolizeidirektionen zu nennen sind. Diese Maßnahmen wurden von der Übergangsregierung Bierlein wieder rückgängig gemacht.

Zur Erinnerung: Das Recht auf Asyl ist Teil der Europäischen Charta der Grundrechte. Es bildet damit auch eine wichtige Basis unseres gesellschaflichen Zusammenlebens.

Verhüllungs- und Kopftuchverbot

Der islamfeindlichen Linie der FPÖ folgend, wurde von Türkis-Blau ein Verhüllungsverbot beschlossen. Gemeinhin auch als „Burka-Verbot“ bezeichnet, ist es seit Oktober 2017 verboten, das Gesicht in der Öffentlichkeit über ein gewisses Maß hinaus zu bedecken, nämlich so, dass die Person nicht mehr erkennbar ist. Das hat drei Jahre später zu Beginn der Corona-Pandemie zu großen Problemen geführt, da das Verhüllen des Gesichts durch das Tragen einer Maske damit offiziell nicht rechtmäßig war. Rein rechtlich war für das Vorliegen eines medizinischen Ausnahmegrundes ein ärztliches Attest notwendig. Die Gesetzesauslegung wurde dann aber an die Pandemiesituation angepasst und eine Maskenpflicht sogar gesetzlich vorgeschrieben. 

Inzwischen gilt das Verhüllungsverbot wieder vollumfänglich. Wird aus medizinischen Gründen eine Maske getragen, trifft die Entscheidung, ob ein gewichtiger Ausnahmegrund vorliegt und ausreichend begründet werden kann, die kontrollierende Exekutive. Es „kann als Ausnahmegrund gelten“, sei aber im Einzelfall zu entscheiden, wie ein Sprecher des Innenministeriums dem Standard sagte. 

Bei Demonstrationen und Versammlungen wird von der Polizei inzwischen wieder auf das Verhüllungsverbot aufmerksam gemacht (etwa bei der großen Demonstration gegen Rechtsextremismus am 26. Jänner vor dem Parlament in Wien). Ob die Polizei auch in diesen Fällen eine medizinische Begründung als Ausnahmegrund zählen lässt, ist offen.  

In den Volksschulen hat Türkis-Blau im Schuljahr 2018/19 ein generell gültiges Kopftuchverbot erlassen. Darunter hat die Regierung „das Tragen weltanschaulich oder religiös geprägter Bekleidung, mit der eine Verhüllung des Hauptes verbunden ist“ verstanden. Der VfGh hat dieses Gesetz aufgehoben, da es sich in dieser Ausführung eigentlich nur gegen Muslim*innen richte und damit gegen das Gebot der religiösen und weltanschaulichen Neutralität des Staates verstoße. 

Das in die gleiche Kerbe schlagende Kopftuchverbot im Kindergarten wurde 2022 gemeinsam von Bund und Ländern nicht verlängert, da der Verfassungsdienst dem Bestehen der landesgesetzlichen Regelungen vor dem VfGh geringe Chancen zugerechnet hat.

E-Card mit Foto

Ein Überbleibsel von Türkis-Blau, das wohl die meisten von euch in eurem Brieftascherl haben, ist die E-Card mit dem persönlichen Foto. Damit solle laut Türkis-Blau „Sozialbetrug“ in Millionenhöhe verhindert werden. Viele Expert*innen zweifelten damals an der Sinnhaftigkeit. So sollen etwa im Jahr 2016 der Wiener Krankenkasse nur knapp 9.900 Euro Schaden durch die illegale Weitergabe von E-Cards entstanden sein. Die Wiener Zeitung hat hier für 2018 Zahlen dazu zusammengetragen. Die Gesamtkosten für das Projekt wurden bis 2023 mit 23,5 Millionen Euro angegeben.

Mit Jänner 2024 wurden zudem über eine Million alte E-Cards ohne Fotos ungültig. Darunter waren auch mehr als 100.000 Menschen mit gültigem Versicherungsanspruch, die nicht rechtzeitig benachrichtigt wurden und so potenziell von Versicherungsleistungen ausgeschlossen wurden.

Das Vermächtnis von Türkis-Blau Teil 2: Der nächste Teil widmet sich einem der größten Projekte von Türkis-Blau: Der Krankenkassenfusion. Wie aus mehr Leistungen für Patient*innen Mehrkosten für Steuerzahler*innen wurden und warum der Rechnungshof die Reform stark kritisiert hat, erfahrt ihr am 21.03.

Autor*in: Emil Biller

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