Eine Regierung für EINE Krankenkasse
Eine Reform, die uns bis heute beschäftigt: Aus 21 verschiedenen Sozialversicherungsträgern wurden in der Zeit der türkis-blauen Regierung fünf – allen voran die österreichische Gesundheitskasse (ÖGK). Bild: Weingartner-Foto / picturedesk.com
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Emil Biller
Reporter

Eine Regierung für EINE Krankenkasse

Vor mehr als sechs Jahren wurde die ÖVP-FPÖ-Regierung angelobt. Aber welche großen Reformen hat Türkis-Blau damals eigentlich beschlossen und was ist davon übrig geblieben? Teil 2 der tag-eins-Serie über das Vermächtnis von Türkis-Blau.


Im ersten Teil der Serie über das Vermächtnis von Türkis-Blau stand deren Asyl- und Sozialpolitik auf dem Prüfstand. Dieses Mal geht es um eines meiner absoluten Lieblingsprojekte der vergangenen ÖVP-FPÖ-Regierung: die Fusion der Sozialversicherungsträger. Eine Reform, von der wir bis heute alle direkt betroffen sind. Angekündigt als Leuchtturmprojekt, Gesundheitsreform und Verschlankung des Sozialstaates, bleibt davon nach einer unabhängigen Analyse des Rechnungshof wenig übrig. 

Bis heute beschäftigt das Projekt die Innenpolitik. Aktuell wird in einem von der ÖVP eingesetzten U-Ausschuss zu „rot-blauem Machtmissbrauch“ über die Reform und den Umgang der damaligen FPÖ-Sozialministerin Beate Hartinger-Klein mit den dazugehörigen Akten heftig debattiert. Aber dazu später mehr. 

Eine Regierung für EINE Krankenkasse 

Aus 21 verschiedenen Sozialversicherungsträgern wurden in der Zeit der türkis-blauen Regierung fünf – allen voran die österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), bei der mehr als 7,5 Millionen Menschen versichert sind. Bis 2020 gab es für die Arbeitnehmer*innen und Arbeiter*innen in jedem Bundesland eine eigene Gebietskrankenkasse. Zusätzlich gab es noch fünf sogenannte Betriebskrankenkassen großer Unternehmen und eigene Krankenkassen für Selbstständige, Bäuer*innen, Bergleute und Eisenbahner*innen, öffentliche Bedienstete sowie Notar*innen.

Das von Türkis-Blau propagierte Ziel der Reform: Verwaltungseinsparungen in Höhe von einer Milliarde Euro, die in das Gesundheitssystem fließen und der Bevölkerung zugutekommen sollen. Der unabhängige Rechnungshof hat das Vorhaben 2022 in einem Bericht zerpflückt: Statt einer Einsparung von einer Milliarde Euro ergibt sich durch die Fusion zwischen 2020 und 2023 ein Mehraufwand von 214,95 Mio. Euro.

Der blaue Bereich zeigt, wie viel mehr Geld uns die Fusion kostet. Bild: Screenshot Rechnungshof

Verschwundenes Gutachten

Die türkis-blaue Regierung hat zwar mit 30 Prozent Einsparungen im Verwaltungsaufwand kalkuliert, konnte deren Ursprung aber laut Rechnungshof nicht näher erklären. Als Bestätigung für diese Kalkulation diente ein betriebswirtschaftliches Gutachten, das vom Sozialministerium beim Consultingunternehmen Ernst & Young in Auftrag gegeben wurde. 

Vom Sozialministerium wird dieses Gutachten öffentlich aber nicht (mehr) zur Verfügung gestellt. ___STEADY_PAYWALL___ Auf der Webseite über die Strukturreform findet sich lediglich folgende Information:

Das umstrittene Gutachten wird vom Sozialministerium zwar erwähnt, aber nicht verlinkt. Bild: Screenshot BMSGPK

Der tag-eins-Unterstützer und IT-Spezialist Mario Zechner ist allerdings fündig geworden und stellt das knapp 30-seitige Dokument von Juni 2019 hier zur Verfügung. Dieses Gutachten und das besagte Einsparungspotenzial wurde bereits damals von vielen Seiten kritisch hinterfragt. Etwa durch ein eigenes Plausibilitätsgutachten der Arbeiterkammer oder zuvor durch den Rechnungshof. Die türkis-blaue Regierung ließ sich davon in ihrem Vorhaben aber nicht beirren.  

Teure Beratungsverträge

Der Rechnungshof kritisiert im Prüfbericht von Dezember 2022 zudem abermals, dass den neuen Krankenkassenträgern (gesetzlich) keinerlei Einsparungsvorgaben gemacht wurden. Im Fusionsprozess seien außerdem Millionen Euro für externe Beratungen ausgegeben worden.

Ein konkreter Vorwurf: Das Sozialministerium habe einen Beratungsauftrag ohne vorherigen Preisvergleich an ein einziges Consultingunternehmen vergeben – in der Höhe von 10,6 Millionen Euro, bezahlt aus dem Budget der ÖGK. Der Preis für den durchschnittlichen Stundensatz dieses Unternehmens war damit 80 Prozent höher als der Stundensatz des Unternehmens mit dem zweithöchsten Honorarvolumen im Reformprozess für IT-Leistungen der SVS. 

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Was ist eigentlich der Rechnungshof?

Der Rechnungshof ist eine von der Politik unabhängige Institution und kontrolliert die Finanzen und das finanzielle Gebaren des öffentlichen Verwaltungsapparats. Darunter fallen etwa alle Ministerien, aber auch Organisationen des öffentlichen Gesundheitssystems und Unternehmen im öffentlichen Eigentum. Kontrolliert wird dabei, ob Steuergeld effizient, effektiv und ökonomisch sinnvoll eingesetzt wird

Im Bericht heißt es außerdem: „In Einzelfällen waren Beauftragungen und Abrechnungen der externen Beratungsleistungen unzweckmäßig oder mangelhaft: So wurden hochpreisige Berater für einfache, auch intern erbringbare Assistenzdienste eingesetzt. Die Abrechnung wurde von Personen geprüft, die in die Leistungserbringung eingebunden waren. Leistungen wurden vor der formalen Auftragsvergabe erbracht.“ 

Kampf um Akten

In diesem Bericht wurde außerdem schon 2022 dargelegt, dass das Sozialministerium dem Rechnungshof nicht alle Akten zur Verfügung gestellt hat, die für eine umfassende Prüfung der Strukturreform, insbesondere der Vergabe dieser Beratungsleistungen, notwendig sind. Die Akten aus dem Sozialministerium wurden damals an das Staatsarchiv übergeben, als „Privatakten“ versiegelt und für 25 Jahre archiviert. Was zumindest bei Akten über die Vergabe von Aufträgen nicht üblich sei.

Dadurch sei selbst für den Rechnungshof kein Zugriff mehr möglich. Das Staatsarchiv könne die Einstufung als „Privatakten“ aber nicht zurücknehmen, dazu befugt sei nur die damalige FPÖ-Sozialministerin Hartinger-Klein.

Dieses Thema ist auch jüngst wieder Gegenstand hitziger politischer Debatten. Im aktuell von der ÖVP eingesetzten U-Ausschuss zum „rot-blauen Machtmissbrauch“ wurden Akten zur Sozialversicherungsreform vom Sozialministerium angefordert. Emails, die der APA (Austrian Press Agency) vorliegen, deuten darauf hin, dass eine große Menge dieser Akten aus dem Büro der Sozialministerin vor der Übergabe ans Staatsarchiv geschreddert wurden. Hartinger-Klein wisse davon aber nichts.

Die Präsidentin des Rechnungshof Margit Kraker zeigt sich verwundert über den Umgang mit Akten und Daten in der öffentlichen Verwaltung (ZIB2 vom 05.03.2024):

„All das, was wir an mangelnden Dokumentationen immer wieder vorfinden, das bestürzt den Rechnungshof schon, denn wo nicht dokumentiert ist, können wir auch nur schwer prüfen. Wir müssen eigentlich Zugang zu allen Unterlagen bekommen.“

Statt Patientenmilliarde, mehr Macht für Arbeitgeber*innen

Türkis-Blau war jedenfalls Feuer und Flamme für das Projekt. Die sogenannte Patientenmilliarde wurde schnell zum geflügelten Wort. Der damalige ÖVP-Bundeskanzler Sebastian Kurz sagte dazu 2018 in einer Pressekonferenz:Bis 2023 wird es eine Patientenmilliarde geben. Wir sparen in der Verwaltung, wir sparen bei den Funktionären, wir sparen im System und schaffen es so, eine Milliarde bis 2023 zu lukrieren, die wir unmittelbar für die Patientinnen und Patienten investieren wollen.“ Wie wir heute wissen, ist davon nicht viel übrig geblieben. 

Das Profil hat hier weitere Aussagen von ÖVP und FPÖ-Politiker*innen zur „Patientienmilliarde“ gesammelt. 

Stattdessen gab es im Zuge der Reform eine Machtverschiebung. Im Verwaltungsrat, dem Steuergremium der ÖGK, gibt es nämlich seit der Fusion erstmals eine Balance zwischen Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. Zuvor gab es eine Mehrheit der Arbeitnehmer*innen, was angesichts der zentralen Aufgabe der ÖGK, der Bereitstellung von Versicherungsleistungen für fast alle unselbstständig Versicherten, auch durchaus logisch erscheint.

Bis 2023 wird es eine Patientenmilliarde geben.“

Die Leitungsposition der ÖGK wechselt seit der Fusion im Halbjahrestakt zwischen einem Arbeitnehmer*innenvertreter und einem Arbeitgeber*innenvertreter. Diese beiden Aspekte wurden im Zuge der Reform insbesondere von der SPÖ und der Arbeiterkammer als Aushöhlung der Versichertenrechte kritisiert. Vom Verfassungsgerichtshof wurden diese Punkte aber als grundsätzlich verfassungsgemäß beurteilt. Aufgehoben wurden allerdings Bestimmungen zu einem stärkeren Einfluss des Sozialministeriums in den Gremien und bei Entscheidungen der Sozialversicherungen.

Wo bleibt die echte Fusion? 

Was bis heute noch nicht umgesetzt wurde, ist eine vollständige Harmonisierung, also eine Angleichung der Sozialversicherungsleistungen. Ein Beispiel: Für einen Wahlarztbesuch in Wien bekomme ich von der ÖGK in vielen Fällen einen anderen Betrag ersetzt wie für die gleiche Leistung in Kärnten. Das lässt sich zwar historisch (aufgrund der politischen Macht der Landesärztekammern) erklären, aber angesichts des eigentlichen Ziels der Reform, der strukturellen Zusammenlegung der Krankenkassen, nicht rechtfertigen. Die türkis-blaue Krankenkassenfusion bleibt eine klassisch österreichische Lösung. 

Zum Abschluss noch eine kleine persönliche Anekdote: Vor einiger Zeit war ich immer wieder abwechselnd bei der ÖGK in zwei verschiedenen Bundesländern versichert. Nach einer Antragstellung meinerseits und einer wenig Klarheit stiftenden Antwort darauf teilte mir vergangenes Jahr ein Mitarbeiter auf Nachfrage hin mit, dass die ÖGK noch nicht so weit sei, dass es diesbezüglich einen Datenabgleich zwischen den Zweigstellen der ÖGK in verschiedenen Bundesländern gäbe. Das wäre ja auch wirklich zu viel verlangt.    

In Teil 3 der Serie „Das Vermächtnis von Türkis-Blau“ nehmen wir Maßnahmen der letzten ÖVP-FPÖ-Regierung im Bereich Überwachung und „Sicherheit“ unter die Lupe. Stay tuned, wir lesen einander in einigen Wochen.

Autor*in: Emil Biller

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