„30 Prozent der Österreicher*innen sagen, ich darf hier nicht sein“
Die extrem rechte FPÖ hat zum ersten Mal in der Geschichte eine Nationalratswahl gewonnen. Wir haben gefragt, wie es euch mit dem Wahlergebnis geht.
Statt über echte Probleme wie Inflation, Rezession, Arbeitslosigkeit oder die Pflegekrise spricht die FPÖ meistens über Themen, die sie ideologisch und kulturkämpferisch ausschlachten kann. Nichts liebt die FPÖ mehr als den emotionalen Aufreger. So kommt das Wort „Asyl“ im blauen Wahlprogramm 58 Mal vor, das Wort Pflegekrise nur einmal.
Jede Partei hat „ihre“ Themen, für die sie bekannt sind, für die sie stehen, für die sie gewählt werden. Besonders an der FPÖ ist allerdings, dass sie trotz ihrer Größe im medialen und politischen Diskurs oft damit durchkommt, sich bei Sachthemen inhaltlich nicht zu positionieren. Oder kennst du die Positionen der FPÖ zum Pensionsantrittsalter, der Staatsverschuldung oder zur Konjunkturbelebung?
Nein? Dann wollen wir das jetzt ändern.
Aus dem eigentlichen Wirtschaftsprogramm der FPÖ aus dem Jahr 2017 lächelt einem noch Heinz-Christian Strache entgegen. Damals positionierten sich die Freiheitlichen noch mit dem Label „soziale Heimatpartei“, eine Formulierung, die sich im Wahlprogramm 2024 nicht mehr wiederfindet.
In den vergangenen Oppositionsjahren hat die FPÖ immer wieder soziale Forderungen (Preisregulierung in der Inflationskrise, Bankensteuer, höheres Arbeitslosengeld) erhoben, gleichzeitig spricht Herbert Kickl im ORF-Sommergespräch von Steuersenkungen in Höhe von 15 bis 20 Milliarden Euro.
Es ist der Widerspruch, der sich seit Jahrzehnten durch die Politik der FPÖ zieht: Traditionell ist die FPÖ wirtschaftsfreundlich, ihr Personal rekrutiert sich aus der Oberschicht und in der Regel sind es Akademiker*innen. Die Wähler*innen haben hingegen oftmals niedrige Bildungsabschlüssen und Abstiegsängste. Die Antworten der Wählerschaft auf soziale Fragen divergieren. Der Kitt, der die Partei zusammenhält, ist die Ablehnung von Migration und allem, was Grün ist. ___STEADY_PAYWALL___
Dieser Widerspruch, ja diese Bruchlinie, zieht sich auch durch die wirtschaftlichen Aspekte des Wahlprogramms.
So sprüht das grundlegende Eingangsstatement (siehe Screebshot) von einem libertären Geist. Der Politik und damit dem Staat wird hier global die Kompetenz abgesprochen, Probleme zu lösen; ja, der Staat ist das Problem an sich. Federführend verantwortlich für die wirtschaftliche Ausrichtung der FPÖ ist neben dem Burschenschafter und Ex-ÖBB-Manager Arnold Schiefer (Platz 15 auf der FPÖ-Bundesliste), die Wirtschafswissenschafterin Barbara Kolm, die als Sechste auf der Bundesliste der FPÖ für den Nationalrat kandidiert. Kolm bezeichnet sich auf ihrer Webseite selbst als „leading female libertarian in Europe“.
Neben der Kürzung staatlicher Leistungen strotzt das Wahlprogramm aber von Steuerzuckerl, Boni und Vergünstigungen für FPÖ-erwünschtes Verhalten.
Hier sind 67 Forderungen aus dem Wahlprogramm der FPÖ, die der Allgemeinheit Milliarden Euro kosten würden:
Hier geht es nicht um eine Bewertung der geplanten Maßnahmen im Detail, aber jede und jeder erkennt sofort, dass die FPÖ plant, massiv Geld auszugeben, das Budgetdefizit zu erhöhen und die Staatsverschuldung in die Höhe zu treiben.
Die Wahlzuckerl kosten Milliarden, allein die geplante Senkung der Abgabenquote auf 40 Prozent hat ein Volumen von circa 20 Milliarden Euro. Doch das Wahlprogramm bleibt vage. Genaue Zahlen, wie viel die Maßnahmen kosten sollen oder wie sie finanziert werden sollen, bleiben offen. Neue Steuern, etwa auf große Vermögen- oder Erbschaften, schließt die Partei explizit aus.
Wobei: Bei der Präsentation des Wirtschaftsprogramm von Schiefer und Kolm Anfang September blitzt durch, was die FPÖ wirklich geplant hat. Die beiden geben sich freundlich und verständnisvoll; ihr Auftreten ist ganz anders als der polternde Stil von Parteichef Kickl, der in alle Richtungen austeilt.
„Wir halten nichts davon, zum jetzigen Zeitpunkt irgendwelche Sparpotenziale groß hinaus zu posaunen“, sagt Schiefer dort. Und: „So richtig gespart wurde in Österreich noch nie. Eine kleine sozialverträgliche Schlankheitskur wäre jetzt angesagt.“
Anstatt den Wählern und Wählerinnen reinen Wein einzuschenken, lullt die FPÖ sie also mit Steuerzuckerln ein. Für jede Klienteluntergruppe der FPÖ scheint etwas dabei zu sein – selbst an die Unteroffiziere und Vereinsmeier hat man gedacht.
Dabei plant die FPÖ den massiven Systemumbau: Von der österreichischen sozialen Marktwirtschaft Richtung libertären Turbokapitalismus. Als Vorbild dient der FPÖ-Politikerin Kolm dabei ausgerechnet Griechenland: „Die haben das jetzt wirklich geschafft, sich selbst aus dem Sumpf zu ziehen. Die haben genau das getan: mehr Freiräume für die Menschen und für die Unternehmen geschaffen und sich wenig einzumischen; also dort gibt es wirklich wenig Vorschriften und wenig Bürokratie.“
Was Kolm nicht erwähnt: Im Nachgang der Euro- und Griechenland-Krise fuhr die griechische Regierung eine rigide Spar- und Austeritätspolitik. Staatsbesitz wie Häfen, Flughäfen und Autobahnen wurden verkauft, die 6-Tage-Arbeitswoche eingeführt. Das Wirtschaftswachstum ist zwar höher als in der restlichen Eurozone, aber auf wessen Kosten? Die Arbeitslosenquote ist mit 9,9 Prozent die zweithöchste der EU, 18,9 Prozent der Griech*innen sind armutsgefährdet, das Durchschnittseinkommen beträgt gerade einmal 9.520 Euro, die Reallöhne liegen bei 71 Prozent des Vorkrisenniveaus, die Investitionsquote ist nirgends in der EU niedriger.
Insgesamt bleibt im FPÖ-Wirtschaftsprogramm das meiste im Dunklen. Was bei anderen Parteien bemängelt werden würde, rutscht im medialen Diskurs über die FPÖ durch.
Ja, die Freiheitlichen trauen sich sogar noch zu behaupten, die Stabilitätskriterien einhalten zu wollen und die Schuldenpolitik zu stoppen. „Ich glaube, dass es möglich sein müsste, über den fünfjährigen Zeitraum der Regierungsarbeit, dann in Richtung eines ausgeglichenen Budgets zu arbeiten“, sagt Schiefer, der immer wieder als möglicher Finanz- oder Wirtschaftsminister der FPÖ gehandelt wird. Das klingt nach Hokus-Pokus: Einerseits will die FPÖ viel ausgeben bzw. Steuern senken, andererseits soll gespart werden und ein ausgeglichenes Budget erreicht werden.
In Anbetracht der Fülle an teuren Forderungen kann man das eigentlich nur noch so nennen: Verorschung der Wähler*innen.
https://www.youtube.com/watch?v=NgMN-wxB0p4
https://kontrast.at/fpoe-wirtschaft-kickl-kolm/
https://barbara-kolm.at/about/
https://www.derstandard.at/story/3000000188176/f252r-den-kleinen-mann-und-das-gro223e-kapital
https://kontrast.at/natascha-strobl-interview-kulturkampf/
https://www.derstandard.at/story/3000000236310/kickls-wirtschaftsguru-warum-die-leute-narrisch-machen-indem-wir-sagen-wir-muessen-sparen
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