„30 Prozent der Österreicher*innen sagen, ich darf hier nicht sein“
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Brno, 2017. Der Konferenzraum ist erfüllt von einem aufgeregten Stimmengewirr. Junge Menschen aus ganz Europa haben sich hier versammelt, jede*r mit einer eigenen Geschichte, doch alle mit dem gemeinsamen Ziel, über die Zukunft Europas zu debattieren. Ich sitze in einem gemütlichen Sessel mitten im Brünner Rathaus, umgeben von jugendlichen Delegierten aus Frankreich, Spanien, Polen und vielen weiteren Ländern. Wir beginnen, unsere Ideen auszutauschen, die Atmosphäre ist elektrisierend. Jede Person bringt ihre Perspektive ein, und obwohl wir unterschiedliche Meinungen haben, teilen wir eine gemeinsame Vision: ein vereintes Europa. Diese Erfahrung sollte meine Sicht auf die europäische Idee für die nächsten Jahre prägen.
Mit 15 Jahren trat ich dem Europäischen Jugendparlament (EYP) bei. Für mich war es eine Zeit voller Begeisterung, Hoffnung und dem festen Glauben an die europäische Idee. Doch mit dem Alter kamen nicht nur Erfahrungen, sondern auch Ernüchterungen.
Heute, mit 25 Jahren und einer zweijährigen Amtszeit im Vorstand des Europäischen Jugendparlaments Österreich hinter mir, finde ich mich in einem Zwiespalt wieder: einerseits die Erinnerungen an die leidenschaftliche Unterstützung des europäischen Projekts, andererseits die zunehmende Entfremdung und Enttäuschung über die Realität der EU.
Auf der Suche nach Antworten werde ich das echte Parlament besuchen und echten Mitgliedern des Europäischen Parlaments (MEPs) begegnen. Meine Gedanken sind widersprüchlich, als ich mich auf den Weg mache. Kann diese Begegnung mich wieder von der Wichtigkeit des europäischen Projekts überzeugen?
Nach meiner Zeit im EYP verlagerte sich mein Engagement vermehrt in linke Kreise – ein typischer Entwicklungsverlauf für eher linkspolitisch engagierte Studierende heute. Ich begann, mich intensiv mit kritischer Theorie auseinanderzusetzen und erkannte zunehmend, dass unsere Welt viel komplexer und problematischer ist, als ich es mir in meiner kindlichen Vorstellung ausgemalt hatte. Dies war ein entscheidender Schritt in meinem Übergang ins Erwachsenenalter.
Durch meine Arbeit für „SOS Balkanroute“, eine humanitäre NGO, die Geflüchtete auf der Balkanroute durch Hilfsgüter, medizinische Versorgung, Freiwilligenarbeit und politische Aufklärung unterstützt, habe ich wichtige Lektionen gelernt. Diese Arbeit und meine Beteiligung an anderen sozialen Initiativen haben meinen Blick auf die Welt verändert und meinen Fokus von meiner Vergangenheit im Europäischen Jugendparlament (EYP) weggerückt.
Durch den direkten Kontakt mit Geflüchteten und das Engagement in der humanitären Hilfe habe ich erkannt, dass die europäische Politik Teil eines Systems sein kann, das strukturelle Ungleichheiten aufrechterhält. Besonders prägend waren Erlebnisse wie das Verteilen von Hilfsgütern an Menschen in Not und das Beobachten der oft verzweifelten Lage der Geflüchteten, die mir die Realität und die Auswirkungen politischer Entscheidungen vor Augen führten.
Ein zentraler Kritikpunkt betrifft die demokratischen Defizite, die ich als undurchsichtig und bürokratisch empfinde und das Gefühl verstärken, dass wir als junge Menschen wenig Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Auch die wirtschaftliche Ungleichheit innerhalb der EU beschäftigt mich, insbesondere die Kluft zwischen reicheren Ländern im Norden und ärmeren Ländern im Süden. Die Sparmaßnahmen und die Austeritätspolitik, die in einigen Ländern zu sozialen Einschnitten geführt haben, lösen bei mir große Besorgnis aus.
Darüber hinaus bin ich besorgt über die unzureichenden Maßnahmen der EU zum Klimaschutz und zur Bewältigung der Klimakrise. Es fehlt mir an Entschlossenheit, wirkungsvolle Lösungen zu finden, und ich fürchte um unsere Zukunft. Die Migrationspolitik der EU ist ein weiterer Kritikpunkt, vor allem die restriktiven Grenzkontrollen und die mangelnde Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten. Die Situation von Geflüchteten und Migrant*innen bewegt mich zutiefst, und ich wünsche mir eine humanere und solidarische Politik.
In Straßburg angekommen, umgeben von der majestätischen Architektur der EU-Institutionen, fühle ich eine Mischung aus Nervosität und Neugierde.
Die Plenartagung des Europäischen Parlaments ist ein beeindruckendes Spektakel: lebhaft, dynamisch und mit einer Aura politischer Macht erfüllt.
Als ich den MEPs zuhöre, die über die aktuellen Herausforderungen und die Zukunft Europas debattieren, spüre ich wieder einen Funken jener Begeisterung, die mich einst zum EYP geführt hat. Vielleicht ist es auch nur der Wunsch an Teilhabe, der Veränderung, und der Sehnsucht, auch meine Perspektiven in der Arena der alten weißen Männer einzubringen.
Ein Diskussionspunkt, der erwartungsgemäß heiß umstritten war, hat meine volle Aufmerksamkeit gewonnen: Das Gewaltschutzpaket. Die Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ist ein historischer Schritt der EU, um diese allgegenwärtigen Probleme anzugehen. Sie stellt körperliche, psychische, wirtschaftliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen sowohl offline als auch online unter Strafe und behandelt wichtige Aspekte wie Genitalverstümmelung und Zwangsehen.
Trotzdem ist für viele EU-Länder ein „Ja“ nicht immer ein „Ja“. Denn obwohl die Verabschiedung der Gewaltschutzreform ein mikroskopischer Schritt nach vorne für die Geschlechtergleichstellung ist, fehlt ihr dennoch eine einheitliche Definition für Vergewaltigungen. Laut der Europäischen Kommission hat jede dritte Frau weltweit mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren. Mindestens zwei Frauen pro Woche werden in der EU von einem intimen Partner oder Familienmitglied getötet. 32 Prozent der Täter von sexueller Belästigung in der EU stammen aus dem beruflichen Umfeld.
Diese alarmierenden Zahlen verdeutlichen die dringende Notwendigkeit, die Rechte und den Schutz von Frauen in den Vordergrund politischer und gesellschaftlicher Bemühungen zu stellen. In Zeiten, in denen die Diskussion um solche Themen kontrovers erscheint, sollte der Fokus darauf liegen, effektive Maßnahmen gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu ergreifen und bestehende Gesetze zu stärken, anstatt sie zu schwächen.
In den Gesprächen mit den MEPs wird mir klar, dass die EU nicht perfekt ist und dieses Attribut wahrscheinlich auch nie erreichen wird. Wie auch?
Ich kehre mit gemischten Gefühlen nach Wien zurück. Ich fühle mich ermutigt, denke aber weiterhin kritisch.
Vielleicht braucht Veränderung strukturierte Prozesse, Debatten und ein ständiges Hin und Her, bevor sie in Taten umgesetzt werden kann.
Die Diskussionen, besonders zum Gewaltschutzpaket, haben die Notwendigkeit betont, den Schutz von Frauen vor Gewalt zu verbessern. Doch die geringe Diversität und begrenzte Meinungsvielfalt im Parlament bereiten mir Sorgen. Die Dominanz älterer weißer Männer schränkt die Perspektiven und Repräsentation verschiedener Bevölkerungsgruppen ein.
Als junge Person frage ich mich oft, wie ich meinen Beitrag leisten kann. Veränderung erfordert das Engagement jedes Einzelnen. Ich bin entschlossen, aktiv zu sein – durch Diskussionen, Aktivismus und Unterstützung von Initiativen für eine bessere Zukunft. Die EU muss ihre Versprechen auf Vielfalt und Demokratie einlösen. Ich hoffe, dass sie Veränderungen nicht nur diskutiert, sondern auch umsetzt. Und ich werde meinen Teil dazu beitragen.
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