Was passieren muss, damit kein Kind in Österreich mehr in Armut lebt
Innerhalb von zehn Jahren die Kinderarmut in Österreich abschaffen? Mit einem gut durchdachten Gesetzespaket wäre das möglich, sagt der Sozialexperte Martin Schenk. Illustration: Anna Schuierer 
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Ruth Eisenreich
Reporterin

Was passieren muss, damit kein Kind in Österreich mehr in Armut lebt

Eine realistische Utopie von Martin Schenk

18. Oktober 2033 | Die 22-jährige Jenny ist in die selbe Schule gegangen, die heute ihr 14-jähriger Bruder Stefan besucht. Aber seitdem hat sich viel verändert in der Neuen Mittelschule im Innsbrucker Stadtteil Olympisches Dorf: Die heruntergekommenen Wände wurden neu gestrichen, es gibt jetzt Lernbegleitung am Nachmittag, eine Schulpsychologin, ein Theater-Freifach und jeden Tag ein warmes Mittagessen, das tatsächlich schmeckt. 

Die Neuerungen hat die Schule mit dem Geld aus dem Chancenindex bezahlt, den die Bundesregierung 2024 als Teil ihres Kinderarmuts-Pakets eingeführt hat. Schulen bekommen jetzt zusätzliches Geld, wenn dort viele Kinder aus armen Familien wie der von Jenny und Stefan lernen. In Städten wie London, Toronto und Hamburg gab es solche Modelle schon lange.

Überhaupt ist dank dem Kinderarmuts-Paket für Stefan einiges einfacher, als es für Jenny war. Die Eltern der beiden haben sich getrennt, als Stefan zwei Jahre alt war, ihr Vater zahlt nur wenig Unterhalt. Das Geld war in der Familie daher immer knapp. Urlaub war nicht drin, im Winter saß die Familie oft im Mantel im Zimmer. Die Wohnung war feucht und schimmlig. Stand ein Schulausflug an, meldete sich Jenny oft krank – sie schämte sich, zuzugeben, dass der Familie das Geld für den Ausflug fehlte. 

Martin Schenk ist Sozialexperte, stv. Direktor der Diakonie Österreich und Mitbegründer der Armutskonferenz.

Mit dem Kinderarmuts-Paket wurde dann eine Kindergrundsicherung eingeführt. Sie ersetzte Leistungen wie die Familienbeihilfe, den Kinderabsetzbetrag und den Familienbonus. Jedes Kind in Österreich bekommt jetzt als „universelle Komponente“ 200 Euro pro Monat vom Staat, Familien mit einem steuerpflichtigen Einkommen von unter 35.000 Euro pro Jahr zusätzlich eine „einkommensgeprüfte Komponente“ von bis zu 425 Euro pro Kind. Den Maximalbetrag bekommen Familien mit einem Einkommen von unter 20.000 Euro pro Jahr.

Vor kurzem ist Jenny selbst Mutter geworden – und obwohl auch sie und ihr Freund in schlecht bezahlten Jobs im Handel arbeiten, hat sie es viel leichter als ihre Mutter vor 20 Jahren. Seit der Staat über die 2025 gegründete Wohninvestitionsbank die Gemeinden bei der Errichtung von sozialem Wohnbau unterstützt, haben Städte wie Salzburg und Innsbruck reihenweise günstigen Wohnraum bauen lassen. Jenny, ihr Freund und ihr Baby haben eine helle 70-Quadratmeter-Wohnung im ersten über dieses Programm finanzierten Wohnhaus Innsbrucks ergattert. Die Wohnungen, die sie um das selbe Geld am privaten Wohnungsmarkt bekommen hätten, waren winzig, abgeranzt oder beides.

308 Millionen Euro pro Jahr gibt der Staat für den Chancenindex aus. Die teuerste Maßnahme des Kinderarmuts-Pakets ist die Kindergrundsicherung – aber ihre Kosten von 2,5 Milliarden Euro sparte der Staat durch die Abschaffung des Familienbonus Plus wieder ein, eines steuerlichen Absetzbetrags, von dem vor allem gut verdienende Familien profitierten. 

Dass die Regierung sich im Jahr 2024 trotz der insgesamt hohen Kosten zum Beschluss des Kinderarmuts-Pakets durchgerungen hat, hatte mit dem Begriff „Return on Investment“ zu tun: Volkswirtschaftlichen Studien hatten gezeigt, dass Investitionen in Bildung und Gesundheit von Kindern das Vielfache ihrer Kosten wieder einspielen – 13 Prozent Rendite pro Jahr und Kind waren es in einer Studie bei der Unterstützung von Kindern bis zum fünften Lebensjahr. 

Entwickelt hat das Kinderarmuts-Paket dann eine ressortübergreifende Taskforce aus mehreren Ministerien. Auf den Rat von Sozialexpert*innen hin baute sie alle Maßnahmen so auf, dass sie nicht nur armen Familien, sondern auch der unteren Mittelschicht zugutekamen. Die Opposition forderte zwar, dass die Maßnahmen noch „treffsicherer“ die Ärmsten erreichen sollten, aber die Regierung konterte mit Erkenntnissen aus der Armutsforschung. Die hatte gezeigt, dass Maßnahmen, von denen größere Teile der Bevölkerung profitieren, von den Wähler*innen eher akzeptiert und von den Berechtigen eher in Anspruch genommen werden – einerseits, weil sie nicht mit einem Stigma verbunden sind, andererseits, weil die Betroffenen sich nicht extra durch bürokratische Anträge durcharbeiten müssen, sondern die Leistungen automatisch erhalten.  

Dieser Text beruht auf der Expertise von Martin Schenk. 
In der Rubrik „tag 3.650“ zeichnen wir alle vier Wochen mit Hilfe von Fachleuten Szenarien, die utopisch klingen, aber technisch und finanziell durchaus umsetzbar sind, wenn ausreichend politischer Wille da ist. Alle darin vorkommenden Personen sind fiktiv, alle Konzepte und Zahlen basieren auf Erkenntnissen aus der Forschung.


Weitere Quellen:


Michael Förster: Internationale Armutsvergleiche anhand von Mikrodaten der Luxembourg Income Study (LIS), in: Internationale Tagung zum UNO-Jahr der Ausmerzung der Armut, Arbeitsberichte zu Politik und Gesellschaft Nr 2, 39-55, 1996.

Amartya Sen: Ausgrenzung und politische Ökonomie, in Wolfgang Voge, Yuri Kazepov (Hrg): Armut in Europa, Wiesbaden 1998.

Wirtschaftsforschungsinstitut Wifo (2021): Monetäre Familienleistungen für unterschiedliche Haushaltskonstellationen 2021.

Gerhard Wohlfahrt: Umverteilungswirkungen und „Treffsicherheit“ des öffentlichen Sektors in Österreich, in: Stelzer-Orthofer Christine (Hg): Zwischen Welfare und Workfare. Soziale Leistungen in der Diskussion, 2001.

Autor*in: Ruth Eisenreich

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